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Lesereise Nordseekueste

Lesereise Nordseekueste

Titel: Lesereise Nordseekueste
Autoren: Wolfgang Stelljes
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habe, seit er vor fünfundzwanzig Jahren das letzte Mal hier gewesen sei. Den habe er gefragt, sagt Tapken, wie er denn über die Runden kommen solle, »wenn Sie nur alle fünfundzwanzig Jahre kommen«. Und überhaupt: Die Wände sind mit Muschelkalk gemauert, da kann man nicht so mir nichts, dir nichts was verändern.
    Karl-August Tapken ist ein ruhiger, freundlicher Mann, liberal und weltoffen. Mit Radziwill war er befreundet, der kam zum Essen oder auf einen Rotwein, vor allem in den Siebzigern, als er nicht mehr malen konnte und langsam erblindete. Sechzig Jahre lebte Radziwill in Dangast, bis zu seinem Tod 1983. Seine späte Anerkennung erlebte er noch mit. Er blieb jedoch umstritten, weil er ab 1933 Mitglied der NSDAP gewesen war. Noch im selben Jahr wurde er Leiter der Meisterklasse an der Düsseldorfer Kunstakademie, während der bei den Nazis weniger gelittene Paul Klee seine Professur aufgeben musste. Später dann wuchs auch bei Radziwill die Distanz. 1938 präsentierten die Nazis drei seiner expressionistischen Frühwerke in der Ausstellung »Entartete Kunst« und erteilten ihm faktisch ein Arbeits- und Ausstellungsverbot. So ganz ließ er sich das Malen aber nicht verbieten, das eine oder andere Bild soll der eigenwillige Künstler sogar unter den Dachsparren seines Hauses an der Sielstraße 3 verborgen haben, heute Domizil des Franz-Radziwill-Hauses.
    Manch einer in Dangast hat Radziwill nicht richtig ernst genommen, sagt Tapken, weder sein frühes Engagement für den Naturschutz noch seine Kunst. Einem Bauern hat er mal ein Bild angeboten, ein Roggenfeld, leuchtend rot, für hundert Mark, doch der sagte nur: »Mensch, Franz, wat molst du den Roggen rot, du weest doch genau, dat de geel ist.« Später grämte sich der Bauer: Das Bild war mindestens so viel wert wie vier oder fünf Hektar besten Marschenlands. Noch mehr allerdings dürfte den Dangastern und wohl auch Radziwill selbst das Verständnis für eine andere Größe der Kunstszene abgegangen sein: Joseph Beuys. »Der hatte nur Kurzauftritte hier, leider«, meint Tapken. Einmal setzte er am Strand einen Ackerwagen in Brand, Tapkens Vater hatte ihn besorgt. Beuys traktierte das brennende Gefährt mit einer Axt, eine Kunstaktion, die gefilmt werden sollte, aber der Kameramann hatte den Wind falsch berechnet, der Qualm raubte ihm die Sicht. Offenbar gefiel es Beuys in Dangast, denn zu Karl-Heinz Herzfeld, seinem Meisterschüler, der nur »Anatol« gerufen wurde, soll er gesagt haben: »Mensch, ihr habt hier eine schöne Ecke, haltet euch die warm.« Anatol folgte diesem Rat. Er schuf die »Jade«, eine windschiefe Frauenfigur am Ende des Steges am Strand. Und er malte das größte Bild im Kursaal, zwei mal vier Meter groß: Es zeigt eine Mühle, windzerzaust. Abends gegen neunzehn Uhr hat Anatol damit angefangen, erinnert sich Tapken. »Und zur Tagesschau waren wir fertig.«
    So skurril wie die Künstler, die im Kurhaus ein- und ausgingen, war mitunter auch das Publikum. In den siebziger Jahren gab es Wochenenden, da tanzten die Punks am Freitag ihren Pogo, der Samstag gehörte den Autonomen, und am Sonntag hatte die Theatergruppe aus dem Knast in Wilhelmshaven ihren Auftritt, mit Wärtern am Ausgang. Bis heute ist das Kurhaus bekannt für sein Publikum, das bunter kaum sein könnte: Punker und Porschefahrer, Biker und Banker, einträchtig sitzen sie nebeneinander auf der Terrasse. Egal, wer kam, »ich hab alle integriert«, sagt Tapken. »Man musste mit denen nur reden.« Genau diese Haltung ist es wohl, für die er das Bundesverdienstkreuz bekam, für sein »integratives Sozialdings hier«, wie er es nennt. Vor ein paar Jahren riet ihm sein Arzt, kürzer zu treten. Seither hat das Kurhaus nur noch an Wochenenden geöffnet. Es gibt Tage, da kommen hundertfünfzig Gäste zum Frühstück, zweihundert zum Mittagessen und über tausend zum Kaffee. Selbst im Winter, wenn sich draußen die Eisschollen türmen, bildet sich vor dem Kuchentresen eine Schlange, die bis zum Ausgang reicht. Und wenn mal wieder eine Sturmflut an der Strandmauer nagt und das Wasser gegen die Scheiben spritzt, »dann freuen sich die Leute und trinken Grog«.
    Es geht auf neunzehn Uhr zu, im Kurhaus räumen sie zusammen, und Karl-August Tapken geht noch einmal runter zum Strand. Der gehört ebenfalls den Tapkens, deshalb gibt es hier auch keine Kurtaxe. Tapken bückt sich, eine kleine grüne Glasscherbe, er hebt sie auf. Friedlich geht es zu, Kinder kraxeln an der Strandmauer, eine
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