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Lesereise Finnland

Lesereise Finnland

Titel: Lesereise Finnland
Autoren: Helge Sobik
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sich ein Cappuccino im Magen einsam fühlt vielleicht doch noch zwei weitere. Hauptsache nicht vor die Tür treten. Dann etwas zum Knabbern. Und noch etwas bleiben, weil man sich so nett mit der Gruppe Franzosen und dem spanischen Pärchen unterhält, denen dasselbe Schicksal bevorsteht. Je später die Stunde, desto gemütlicher das Restaurant. Schade, dass es irgendwann schließt. Schlimm, dass die finnische Wetterfee im Fernseher an der Wand zum Abschied so gemein guckt, während sie in den Spätnachrichten ein letztes Mal die Vorhersage von sich gibt: »Tiefsttemperaturen in der Nacht in Südfinnland minus zwei in Lappland um minus zwanzig, im Raum Ivalo bis zu minus achtundzwanzig Grad.«
    Alljährlich Ende November beginnen die Bauarbeiten für das Iglu-Dorf. Aus Flusswasser gewonnener Kunstschnee wird mit Hochdruck auf ein kuppelförmiges Aluminium-Fertighäuschen gespritzt. Sechs Stunden später trägt die Substanz, so dass die Blechschablone von einem Traktor unter dem Schnee herausgezogen werden kann und der Iglu steht. Nur die Front muss dann noch angefügt werden. »Kunstschnee ist deutlich wasserreicher als herkömmlicher Schnee und deshalb um ein Vielfaches stabiler«, erklärt Eiramo. »Du kannst mit einem Motorschlitten über unsere Iglus donnern, und nichts wird geschehen.«
    Selbst Stromleitungen haben Eiramo und seine Mitstreiter dieses Jahr in die bläulich weiße Masse eingegossen, um Halogenlampen ins blankpolierte Eis der Nachttischchen im Iglu einlassen zu können. Nur die anderthalb Meter hohen Türen sind aus Holz, das mit Seehundfellen bespannt ist, und über den Betten prangen kleine bunte Wandteppiche, um fröhliche Farben ins Weiß zu bringen.
    Die Nachtlager sind ebenfalls aus Kunstschnee, in dessen oberste Schicht eine Kälteschutzmatte aus Spezialplastik eingelegt ist. Eine dünne Matratze ist mit Rentierfellen bedeckt, auf denen wiederum Lammhaardecken ausgebreitet sind.
    Die Deko für das Nachttischchen wird per Schubkarre angeliefert und ist zwölf Kilo schwer: ein Bär aus blankpoliertem Eis – geschaffen vom finnischen Künstler Teuvo Tuomivaara, der sich drei Stunden lang mit Motorsäge und Lötkolben an jeder Skulptur zu schaffen macht. Halten wird sie bis Mai, bestaunt werden wird sie bis dahin täglich.
    Am Nachmittag noch hatten die Iglu-Mieter der kommenden Nacht ihre Quartiere inspiziert, deren Innentemperatur zwischen minus drei und minus sechs Grad schwanken kann, aber nicht darunter fällt. Im Thermoanzug haben sie Probe gelegen, dabei Spaß gehabt, gelacht, gewitzelt – und sich insgeheim gefragt, ob sie sich wirklich für die ganze Nacht darauf einlassen sollten, haben im Geiste erste Ausreden vor sich selbst erwogen und Fluchtmöglichkeiten gecheckt. Trost böte im Fall der Fälle nur das ganzjährig stabil installierte Klohäuschen am Rand der Anlage – ein karger und plötzlich doch sehr gemütlicher Ort, voller Charme sozusagen. Und vor allem beheizt.
    In einem Meter neunzig Höhe wippt ein erschossener Rotfuchs über den beleuchteten Waldweg vom Restaurant Richtung Eisdorf. Unter der sandfarbenen Pelzmütze naht Iglu-Pionier Eiramo, im Gefolge die Schar der letzten Restaurantgäste bei der Übersiedelung in ihre Iglus. Die Mutigeren sind vorausgegangen und schlummern bereits selig in ihren Daunenschlafsäcken auf Lammhaar auf Rentierfell auf Matratze auf Spezialbeschichtung auf Eis. Alle anderen geleitet diesen Abend der Chef zum Bett. Diskret verschweigt er, dass er kurz darauf in seinem beheizten Wohnhaus verschwinden und es sich vorm Kamin gemütlich machen wird, während sie ihre Ausrüstung ausbreiten: ein paar Lagen T -Shirts, Schal, Sicherheitsschal, Reserve-Sicherheitsschal, Wollsocken, Extra-Wollsocken, Reserve-Extra-Wollsocken.
    Hektisch rennen die Iglu-Crews im Schnee hin und her, legen Spurts ein, hüpfen: ein paar Minuten lang Turnübungen im Freien, den Körper nochmal richtig aufheizen, ins Schwitzen geraten, danach sofort in den Daunenschlafsack – so hatte Eiramo es ihnen geraten, um besonders gut gegen das Auskühlen vorzubeugen. Für die passende Gute-Nacht-Musik zum Freiluft-Sportprogramm sorgen die Huskys der benachbarten Farm. Im Dutzend stimmen sie Wolfsgeheul unterm Sternenhimmel an.
    Kein Laut davon ist im Iglu zu hören. Die Kunstschneewände schlucken jedes Geräusch. Beim Betreten des Eisquartiers beschlägt die Brille. Der Schleier ist Beweis für den Fünfzehn-Grad-Temperatursprung von minus einundzwanzig Grad Außentemperatur auf
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