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Lesereise Finnland

Lesereise Finnland

Titel: Lesereise Finnland
Autoren: Helge Sobik
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abgeschnitten hat und heute so unüberwindbar ist wie vor fünfzig Jahren. Viele junge Samen bekennen sich nicht mehr zur Kultur ihrer Väter, haben die Trachten abgelegt, wollen die Herden der Familie nicht übernehmen, sondern suchen ihr Glück im Süden, wo die Wintertage ein bisschen heller und ein bisschen wärmer sind. Und wo das Leben weniger hart ist.
    Schon lange gibt sich in Finnisch-Lappland niemand mehr als Schamane aus. Zu lebendig ist die Erinnerung an die Gräueltaten, die den Weisen widerfuhren. Doch der samische Glaube lebt im Verborgenen hinter einer Mauer des Schweigens fort – und in den Seelen der Menschen, die ihren Naturgöttern nie völlig abgeschworen haben.
    Noch heute opfern die Samen ihren Geistern, die offiziell Geschichte sind und insgeheim den Alltag bestimmen. Maarit kennt über ein Dutzend solcher Opferplätze in der Umgebung, und ihre hochbetagte Mutter reibt jedes Frühjahr einen heiligen Stein am Ufer des Inari-Sees mit dem Fett des ersten gefangenen Lachses der neuen Saison ein, um das Wohlwollen von Geistern und Göttern zu erbitten.
    In vielen Details hat der alte Glaube überlebt: Nie würde ein Same einen Wacholder verletzen, nie einen Ast davon abbrechen, nie mit diesen Zweigen Fisch räuchern. Wacholder ist die heilige Pflanze der Spiegelwelt und gehört den Geistern. Nur ihre reifen Beeren darf man ernten – die unreifen sind tabu. Ihre Mutter war aufgebracht, als die kleine Maarit im Alter von vier, fünf Jahren einmal mit einem Wacholderzweig in der Hand nach Hause kam. Sie musste zu der Stelle zurückgehen, wo sie ihn abgebrochen hatte und ihn dort in die Erde stecken, damit die Geister ihn selber mitnehmen konnten. Noch heute werden samische Kinder erzogen, Wacholder nicht anzurühren. Die neue Welt hat sich dem Glauben von einst angepasst: In Lappland steht dieser Strauch inzwischen offiziell unter Naturschutz.
    »Für uns gibt es Vögel, die Glück, und solche, die Unglück bringen«, erzählt Maarit. »Specht und Kuckuck bringen Unglück, und kommt ein Schneehuhn auf den Hof und bleibt, dann bringt es den Tod mit. Glück bringt der Kuovso-Vogel.« Auf Deutsch heißt er Unglückshäher. Sein finnischer Name ist schöner. Er bedeutet »Morgenröte«.
    »Heute fehlt den meisten Menschen die Begabung, auf die innere Stimme und die Natur zu hören. Ihnen fehlt die Zeit und die Ruhe, zu fühlen, was um sie herum, unter und über ihnen geschieht«, sinniert Maarit. »Die Älteren haben Ahnungen. Wissen noch manchmal im Voraus, was geschehen wird. Spüren zum Beispiel, wenn sie Besuch bekommen werden. Das sind Reste des viel größeren Wissens von einst.«
    Zwei Frauen oben in der Gegend von Utsjoki gibt es noch, die zwischen den Welten wandern können und es nur im Verborgenen tun. Fragte man sie, ob sie Schamaninnen seien – sie würden es bestreiten. Und milde lächeln. Von zwei, drei anderen bei Sevettijärvi weiter im Osten hört man vage. Die Flammen der geistlosen Missionare haben das Vertrauen für Jahrhunderte zerstört. Das Tor zur Welt der Götter und Geister existiert im Geheimen weiter, und manchmal spiegelt es sich in Maarit Paadars Augen. Sie erzählt viel. Und sie weiß mehr: Dinge, die sie niemals einem Fremden sagen würde.
    Die Namen lebender Weltenwanderer sind tabu, die der Toten darf man preisgeben. Antti Helander war einer von ihnen – einer der letzten Schamanen Lapplands. Er hatte die Kraft der Jahrtausende. Vor einigen Jahren ist er neunzigjährig in Karasjoki gestorben. »Er hatte die Gabe, mehr zu hören und zu wissen als andere«, sagt Maarit, die ihn viermal besucht hat, um von Helander etwas über das Leben der Samen in fernen Zeiten zu erfahren. Oft hat er die Jüngeren um sich geschart, um sein Wissen weiterzugeben. »Obwohl sein Haus mitten im Dorf war, gab es dort keinen Strom. Antti hat sich geweigert, einen Anschluss gelegt zu bekommen. Elektrizität, sagte er, könne das Böse ins Haus hineinbringen.«
    Was hat Maarit von ihm gelernt, was hat er ihr weitergegeben? Sie schweigt lange und lächelt ebenso lange, bis sie doch etwas sagt: »Ich kann mich mit der Kraft meiner Gedanken an andere Orte versetzen und Intoo von dieser Jurte aus bei der Rentierscheidung in vielen Kilometern Entfernung zusehen. Ich kann dabei sein, ohne hinzufahren.« Es ist ihr nicht recht, sich das sagen zu hören. Lieber hätte sie es nicht erwähnt. Sie rührt mit ihrem Holzlöffel in der Lachssuppe, als würden zu viel gesprochene Worte darin versinken
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