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Lesereise Backsteinstaedte

Lesereise Backsteinstaedte

Titel: Lesereise Backsteinstaedte
Autoren: Kristine Soden
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ihren erst jetzt veröffentlichten Erinnerungen erzählt Käthe Rieck von dem Chaos, das sie vor Ort vorgefunden hat. Doch erst einmal musste sie überhaupt nach Grimmen kommen, mit der Bahn, was allein schon ein Erlebnis der besonderen Art gewesen war: die Wagen »schmutzig, ohne Scheiben, mit zerrissenen Gepäcknetzen und dicht gedrängt zerlumpte, kranke, heimkehrende Kriegsgefangene«, mit einem Pferdefuhrwerk dann über Schlaglöcher von Grimmen weiter zum Schloss, dort verzweifelt die Orgelteile gesucht, die »wüst« unter Schutt und Scherben zerstreut in allen Ecken lagen, an den Plastiken vom Orgelprospekt waren die Nasen, Ohren, Finger »abgehackt«. Und dieser ganze traurige Anblick musste nun auf »Gummiwagen« nach Stralsund befördert werden, was abermals ziemlich ruppig ablief. Denn »die Russen jauchzten förmlich« bei jedem Stück, das zerbrach, zerbeulte oder auseinandergefallen war. In Stralsund angekommen, wurden die Orgelteile in der Turmhalle von St. Marien wie Kraut und Rüben abgeladen. Käthe Riecks Manuskript auf dünnem Durchschlagpapier mit Schreibmaschine getippt, ruhte über fünfzig Jahre als streng vertrauliche »Verschlusssache« in einer Akte im Kirchenarchiv. Ihre unbefangenen Äußerungen zur »Russentour«, die heute zur Biografie der Orgel gehören, waren für jene, die damals das Sagen hatten, ein Tabu.
    Mit bewundernswertem Optimismus machte sich 1952 der Potsdamer Orgelbauer Karl Schuke daran, die Trümmer wieder zusammenzubauen, unterstützt von dem damals neu eingestellten Kantor Dietrich W. Prost, der sich bis zum letzten Tag seiner Amtszeit mit allen nur denkbaren Kräften für die Orgel eingesetzt hat. Beide Männer waren sich schnell einig, dass sie den Zustand von 1943, der mittlerweile aus mehreren historischen Schichten bestand, nicht wiederherstellen wollten. Sie wünschten sich den stilreinen Klang des Barockinstruments im Sinne Stellwagens zurück. Angesichts des Materialmangels in der DDR war das aber nur begrenzt möglich. Denn nicht allein Metall fehlte in den erforderlichen Mengen, auch Eichenholz und vieles, vieles mehr. Kiefer und Presspappe mussten darum her, nicht schön, aber besser als gar nichts. Pünktlich zu ihrem dreihundertjährigen Bestehen spielte die Orgel 1959 wieder in St. Marien – eine grandiose Leistung! Zu restaurieren blieb indes noch ein Riesenprogramm: die Spielanlage, das Pfeifenwerk, die Windladen sowie die fehlenden oder noch nicht wieder angebrachten Ornamente des Orgelprospekts.
    1997 wurde Martin Rost Nachfolger von Dietrich W. Prost als Kantor in St. Marien. Der in Halle an der Saale geborene Organist, der schon während seines Studium an der Hochschule für Musik in Leipzig zweiter Organist im Leipziger Gewandhausorchester gewesen ist, brachte viel Elan in die Hansestadt mit und begründete 1998 die »Friedrich-Stellwagen-Orgeltage«. Spätestens als einem Engel plötzlich ein Flügel abbrach, fiel auf, dass sich der Holzwurm in der Orgel behaglich eingerichtet hatte. Kaputte Windladen beeinträchtigten den Pfeifenklang, ganz zu schweigen von der Spielanlage und dem Pfeifenwerk. Vor diesem Hintergrund trommelte Martin Rost 1999 eine Gruppe hochkarätiger Orgelspezialisten zusammen. Sie sollten eine umfassende Bestandsaufnahme des Instruments machen. Die wissenschaftliche Leitung übernahm das Göteborg Organ Art Center. Eine vierhundertseitige Dokumentation einschließlich Handzeichnungen, Fotos, Tabellen und Schadenskartierung war ein gutes Jahr später das Resultat. Alles wurde erfasst, von der Emporenkonstruktion bis zur kleinsten Öse am Türbeschlag, ergänzt mit den lange verschollenen Bauakten der Orgel, die während der Recherchen wie ein Geschenk des Himmels aufgetaucht waren. Ein irdisches Geschenk traf wenig später aus Hamburg in Stralsund ein: die Zusage der Hermann Reemtsma Stiftung, dass sie die vollen Kosten für diese größte Orgelrestaurierung, die es je in Deutschland gab, übernehmen werde.
    Am 7. Februar 2004, dem Tauftag Friedrich Stellwagens, fand die feierliche Unterzeichnung des Restaurierungsvertrags in St. Marien statt. Und bevor das Unternehmen startete und sich die Restaurateure daran machten, die Pfeifen auszubauen, erklang die Orgel am 3. Oktober ein letztes Mal – es war das Abschiedskonzert für die alte Dame, gespielt von Martin Rost und allen Mitgliedern der Orgelkommission.
    Reisen nach Lettland, nach Polen, nach Schweden, Holland und Ostfriesland begleiteten die Restaurierungsarbeiten von
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