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Leopard

Leopard

Titel: Leopard
Autoren: Jo Nesbø
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für den Rotkehlchen-Fall geschrieben hatte, war ihm von einem Ballistikexperten erklärt worden, das Kaliber der Märklin sei eigentlich zu groß. Sogar für einen Elefanten. Es sei eher dazu geeignet, Bäume zu fällen.
    Er klopfte mit dem Zielfernrohr gegen die Seitenscheibe. »Schneller, Saul.«
    Er stützte den Lauf an der Lehne des Sitzes neben sich ab und probierte den Abzug, während er sein Auge wegen der Schlaglöcher mit etwas Abstand vor das Zielfernrohr hielt. Das Fernrohr musste justiert und kalibriert werden, ihm fehlte die Feineinstellung. Aber dafür war keine Zeit mehr.
     
    Sie waren am Ziel. Kaja schaute aus dem Autofenster. Die vereinzelten Lichter unter ihnen waren Goma, weiter draußen erkannte sie die Lichter des Förderturms im Kivu-See. Das Mondlicht glitzerte auf dem grünschwarzen Wasser. Der letzte Teil des Weges war nur ein Pfad gewesen, der um den Gipfel herum durch eine nur von den Autoscheinwerfern erhellte, schwarze, kahle Mondlandschaft führte. Als sie das obere Plateau erreicht hatten, einen topfebenen Steinteller mit einem Durchmesser von rund hundert Metern, war der Fahrer durch weiße, treibende Rauchfahnen, die aus dem Krater des Nyiragongo rot angestrahlt wurden, zur anderen Seite des Plateaus hinübergefahren.
    Der Fahrer schaltete den Motor aus.
    »Darf ich Sie etwas fragen«, sagte Tony. »Eine Sache, an die ich in den letzten Wochen häufiger gedacht habe. Wie fühlt es sich an, wenn man weiß, dass man stirbt? Ich meine nicht die Angst um sein Leben, die habe ich selbst schon ein paarmal gespürt. Ich frage mich, wie es ist, wenn man sich ohne jeden Zweifel darüber im Klaren ist, dass das Leben hier und jetzt zu Ende geht. Können Sie mir das erklären … irgendwie vermitteln?« Tony beugte sich vor, um Augenkontakt mit ihr her zustellen. »Nehmen Sie sich ruhig Zeit, um die richtigen Worte zu finden.«
    Kaja sah ihn an. Sie hatte Panik erwartet. Aber die blieb aus. Sie war ebenso versteinert wie die Landschaft um sie herum.
    »Ich spüre nichts«, sagte sie.
    »Kommen Sie«, sagte er. »Die anderen waren so ängstlich, dass sie nicht einmal zu antworten vermochten, die haben nur unzusammenhängend gestammelt. Charlotte Lolles hat mich bloß schockiert angesehen, und Elias Skog brachte kein klares Wort mehr heraus. Mein Vater hat geweint. Ist da nur Chaos, oder denkt man noch nach? Spüren Sie Trauer? Reue? Oder die Erleichterung, nicht mehr kämpfen zu müssen? Sehen Sie sich zum Beispiel Lene an, die hat aufgegeben, sie geht wie das willige Opferlamm dem Tod entgegen. Wie ist es mit Ihnen, Kaja? Sehnen Sie sich danach, loszulassen und die Kontrolle aufzugeben?«
    Kaja erkannte tatsächlich Neugier in seinem Blick.
    »Gestatten Sie mir die Frage, wie sehr Sie sich danach gesehnt haben, wieder die Kontrolle zu übernehmen, Tony«, sagte sie und fuhr sich mit der Zunge auf der Suche nach etwas Feuchtigkeit durch den Mund. »Als Sie von einer unsichtbaren Person gesteuert und dazu verleitet wurden, einen Mord nach dem an deren zu begehen, einer Person, die sich später als der Junge entpuppte, dem sie die Zunge aus dem Mund geschnitten haben? Können Sie mir das sagen?«
    Tony starrte vor sich hin und schüttelte den Kopf, als wäre er etwas ganz anderes gefragt worden.
    »Ich bin nicht einmal auf den Gedanken gekommen, bis ich im Internet gelesen habe, dass der gute alte Skai jemanden aus dem Dorf verhaftet hat. Ole. Wer hätte gedacht, dass so etwas in ihm steckt?«
    »So viel Hass, meinen Sie?«
    Tony zog eine Pistole aus der Jackentasche und sah auf die Uhr.
    »Harry kommt spät.«
    »Er wird schon kommen.«
    Tony lachte. »Zum Bedauern für Sie aber ohne Puls. Ich mochte Harry wirklich. Das will ich Ihnen nicht verschweigen. Es hat Spaß gemacht, mit ihm zu spielen. Ich habe ihn aus Ustaoset angerufen, er hatte mir ja seine Nummer gegeben. Sein Anrufbeantworter verkündete mir, dass er sich ein paar Tage außerhalb des Telefonnetzes befinden würde. Ich musste richtig lachen. Natürlich war dieses Schlitzohr in der Håvasshütte.« Tony hatte die Pistole auf seine Handfläche gelegt, während er mit den Fingern der anderen Hand den schwarzen Stahl liebkoste. »Ich habe es ihm angesehen, als ich ihn im Präsidium getroffen habe. Er ist wie ich.«
    »Das bezweifle ich.«
    »O doch. Ein rastloser Mann. Ein Junkie. Jemand, der weiß, was er will, und dafür alles zu tun bereit ist, jemand, der über Leichen geht, wenn es sein muss. Habe ich nicht recht?«
    Kaja
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