Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leopard

Leopard

Titel: Leopard
Autoren: Jo Nesbø
Vom Netzwerk:
klangen für Kaja wie das Echo einer Liebeserklärung auf der Schwelle des Todes, ein Begräbnis im Schnee: »Bis dass der Tod uns scheidet.«
     
    Harry glitt hinter das Regal mit den Masken, als die Gestalt die Treppe runterkam, sich umdrehte und mit der Lampe den Raum absuchte. Es gab keinen Ort, an dem er sich verstecken konnte, der Countdown bis zu seiner Entdeckung lief. Harry schloss die Augen, um nicht geblendet zu werden, während er mit der lin ken Hand die Patronenschachtel öffnete. Er nahm vier Patronen heraus, seine Finger wussten ganz genau, was vier Patronen waren. Mit der rechten Hand kippte er die Trommel des Revolvers nach links heraus und versuchte zu den automatisierten Bewegungen zurückzufinden, die er so perfekt beherrscht hatte, als er einsam im Cabrini Green saß und aus lauter Langeweile das Schnellladen der Waffe trainiert hatte. Aber hier war es nicht einsam genug. Und auch nicht langweilig. Seine Finger zitterten. Das Licht verschwand. Er war nicht tot, noch nicht. Aber seine Finger gehorchten. Sie steckten die Patronen in vier der sechs freien Kammern, entspannt und schnell. Die Trommel klickte zurück. Harry öffnete die Augen, als das Licht ihn ins Gesicht traf. Geblendet feuerte er seine Waffe auf die Sonne ab. Das Licht schwang nach oben an die Decke und verschwand. Das Echo des Schusses hing noch im Raum und wurde von dem Rollen der Taschenlampe abgelöst, die auf dem Boden einen Kreis beschrieb und wie ein Leuchtturm das Licht in einem Bogen an die Wände warf.
    »Kinzonzi! Kinzonzi!«
    Die Lampe rollte vor das Regal und blieb liegen. Harry stürzte vor, packte sie, legte sich auf dem Boden auf den Rücken und hielt die Lampe am ausgestreckten Arm zur Seite, so dass sie möglichst weit von seinem Körper entfernt war. Dann stemmte er die Beine gegen das Regal und schob sich in Richtung Treppe, so dass er die Luke direkt über sich hatte. Gleich darauf kamen die Kugeln. Sie klangen wie Peitschenknallen, und er spürte die Betonsplitter, die aus dem Boden gerissen wurden und ihm gegen Arme und Brust schlugen. Harry zielte und schoss in Richtung der Gestalt, die breitbeinig über der hellerleuchteten Luke stand. Drei schnelle Schüsse.
    Die Kalaschnikow kam zuerst. Sie schlug mit einem lauten Knall neben Harry auf dem Boden auf. Dann kam der Mann. Harry konnte sich gerade noch zur Seite rollen, als der Körper auf den Boden klatschte. Ohne Widerstand. Fleisch. Tote Masse.
    Ein paar Sekunden lang war es still. Dann hörte Harry Kinzonzi – wenn er denn so hieß – leise stöhnen. Harry stand auf, streckte das Licht noch immer zur Seite, sah eine Glock neben Kinzonzi auf dem Boden liegen und kickte sie weg. Dann nahm er die Kalaschnikow.
    Er schleppte den durch die Luke herabgestürzten Mann möglichst weit von Kinzonzi weg, lehnte ihn an die Wand und leuchtete mit der Lampe auf ihn. Er hatte wie Harry in das Licht gefeuert, das ihn geblendet hatte. Harry registrierte sofort, dass der Schritt des Mannes blutgetränkt war. Vermutlich war die Kugel von unten in seinen Magen eingedrungen, eine Verletzung, an der man nicht gleich starb. Eine blutige Schulter, also musste er ihn auch unter der Achsel erwischt haben. Das erklärte, warum die Kalaschnikow zuerst hinuntergefallen war. Harry hockte sich hin. Aber das erklärte nicht, dass der Mann nicht atmete.
    Er leuchtete ihm ins Gesicht. Dass der Junge nicht atmete. Die dritte Kugel hatte ihn unter dem Kinn getroffen, exakt in dem Winkel, in dem sie zueinander gestanden hatten, und war von dort durch den Mund und den Gaumen ins Gehirn gedrungen. Harry atmete ein. Der Junge konnte kaum älter als sechzehn oder siebzehn sein. Ein richtig hübscher Junge. Verschwendete Schönheit. Harry stand auf, legte die Gewehrmündung an den Kopf des Toten und rief laut: »Where are they? Mister Leike. Tony. Where?«
    Er wartete einen Augenblick.
    »What? Louder. I can’t hear you. Where? Three seconds. One – two …«
    Harry drückte ab. Die Waffe stand offensichtlich auf Vollautomatik, denn es gingen mindestens vier Schüsse ab, bevor er den Finger vom Abzug gelöst hatte. Harrys Augen waren geschlossen, als er die Spritzer auf dem Gesicht spürte, und als er sie wieder öffnete, sah er, dass das hübsche Gesicht des Jungen verschwunden war. Dafür rann es nass und warm an Harrys eigenem, nacktem Körper nach unten.
    Harry ging zu Kinzonzi. Stellte sich breitbeinig über ihn, richtete den Lichtkegel der Lampe auf sein Gesicht, zielte mit der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher