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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition)
Autoren: Alex Capus
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klassischer Bildung zu überzeugen versuchte. Dieser hatte über den Wert klassischer Bildung nur gelächelt und seinerseits dem Alten darzulegen versucht, weshalb seine Anwesenheit am Strand gerade jetzt unabdingbar nötig sei: weil die Deutschen in den letzten Wochen dazu übergegangen seien, ihre U-Boote mit hölzernen Aufbauten und bunter Lackfarbe, mit behelfsmäßigen Segeln und falschen Netzen als Fischerboote zu verkleiden.
    Darauf wünschte der Vater zu erfahren, worin bitte der kausale Zusammenhang zwischen deutschen U-Booten und Léons Präsenz am Gymnasium liege.
    Die verkleideten U-Boote, erklärte der Sohn geduldig, würden sich unerkannt französischen Fischkuttern nähern und diese gnadenlos versenken, um die Versorgungslage des französischen Volkes zu verschlechtern.
    »Und?«, fragte der Vater, hustete und versuchte sich zu beruhigen. Jede Aufregung konnte ihn in eine asthmatische Krise stürzen.
    Tag für Tag werde wertvollstes Treibgut an Land gespült – Teakholz, Messing, Stahl, Segeltuch, fassweise Petroleum …
    »Und?«, fragte der Vater.
    Diese kostbaren Rohstoffe müsse man bergen, bevor das Meer sie wieder mitnehme, sagte Léon.
    Während ihre Auseinandersetzung unaufhaltsam dem dramaturgischen Höhepunkt zustrebte, saßen Vater und Sohn in jener scheinbar lässig-entspannten Haltung am Küchentisch, die allen Le Galls eigen ist; sie hatten die Beine lang unter dem Tisch ausgestreckt und lehnten sich weit über die Stuhllehne hinaus nach hinten, sodass ihr Hintern nur noch knapp auf der Stuhlkante auflag. Da sie beide große und schwere Männer waren, hatten sie ein feines Empfinden für die Schwerkraft und wussten, dass die horizontale Lage dem Zustand des Schwebens am nächsten kommt, weil in ihr jedes Körperglied nur sein Eigengewicht zu tragen hat und von der Masse des restlichen Leibs befreit ist, während im Sitzen oder Stehen ein Glied sich auf das andere türmt und sich in der Summe eine zentnerschwere Last ergibt. Jetzt aber waren sie wütend, und ihre Stimmen, die kaum voneinander zu unterscheiden waren, seit der Sohn den Stimmbruch hinter sich hatte, bebten vor mühsam im Zaum gehaltenem Zorn.
    »Du gehst morgen wieder zur Schule«, sagte der Vater und unterdrückte einen Hustenreiz, der aus der Tiefe seiner Brust die Kehle hochstieg.
    Die nationale Kriegswirtschaft sei dringend auf Rohstoffe angewiesen, erwiderte der Sohn.
    »Du gehst morgen wieder zur Schule«, sagte der Vater.
    Der Vater solle an die nationale Kriegswirtschaft denken, sagte der Sohn und registrierte beunruhigt, wie schwer der väterliche Atem ging.
    »Die nationale Kriegswirtschaft kann mich am Arsch lecken«, keuchte der Vater. Dann hatte er einen Hustenanfall, der das Gespräch für eine Minute unterbrach.
    Und ein hübsches Taschengeld lasse sich damit auch verdienen, sagte der Sohn.
    »Erstens ist das kriminelles Geld«, keuchte der Vater. »Und zweitens gilt das Absenzenreglement des Gymnasiums für alle, also auch für dich und deine Freunde. Es gefällt mir nicht, dass ihr euch jede Freiheit herausnehmt.«
    Was der Vater gegen Freiheit einzuwenden habe, fragte der Sohn, und ob er jemals bedacht habe, dass jedes Gesetz, um Beachtung zu verdienen, Ausdruck einer Sinngebung sein müsse.
    »Ihr nehmt euch jede Freiheit allein schon deshalb heraus, weil sie eine Freiheit ist«, ächzte der Vater.
    »Und?«
    »Es ist aber gerade das Wesen eines Reglements, dass es für jeden ohne Ansehen der Person gilt – auch und gerade für jene, die sich für schlauer halten als andere.«
    »Es ist doch aber eine nicht zu leugnende Tatsache, dass manche Menschen schlauer sind als andere«, wandte der Sohn vorsichtig ein.
    »Erstens tut das nichts zur Sache«, sagte der Vater, »und zweitens hast gerade du dich bisher, soweit ich orientiert bin, im Unterricht keineswegs überragender geistiger Kräfte verdächtig gemacht. Du gehst morgen wieder zur Schule.«
    »Nein«, sagte der Sohn.
    »Du gehst morgen wieder zur Schule!«, brüllte der Vater.
    »Ich gehe überhaupt nie wieder zur Schule!«, brüllte der Sohn.
    »Solange du deine Füße unter meinen Tisch streckst, tust du, was ich sage!«
    »Du hast mir gar nichts zu befehlen!«
    Nach diesem geradezu klassischen Wortwechsel artete die Auseinandersetzung in eine Prügelei aus, bei der die beiden sich auf dem Küchenboden wälzten wie Schulbuben und nur deshalb kein Blut vergossen, weil die Mutter rasch und beherzt eingriff.
    »Jetzt ist Schluss«, sagte sie und hob
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