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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition)
Autoren: Alex Capus
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Röcken, Blusen, Schlüpfern und Strümpfen unter die Decke, drehte sich zur Wand und rührte sich nicht mehr.
    Léon ging in die Küche. Er aß Brot und Käse, schaute durchs Fenster auf die Straße und trank, während er auf die Dunkelheit wartete, die ganze Flasche Cidre leer. Erst als er Tante Simone schnarchen hörte, ging er hinüber in den Salon und legte sich neben sie, atmete den süßsauren Duft ihres weiblichen Schweißes und wartete darauf, dass ihn die Zauberkraft des Cidre hinübertrug in die andere Welt.
    Als er am nächsten Morgen die Augen aufschlug, lag Tante Simone in unveränderter Haltung neben ihm, aber sie schnarchte nicht mehr. Léon fühlte, dass sie sich schlafend stellte und darauf wartete, dass er aus ihrem Haus verschwand. Er nahm seine Schuhe in die rechte Hand und den Koffer in die linke und schlich leise die Treppe hinunter.
     
    Es war ein windstiller, sonniger Morgen. Léon nahm die Küstenstraße über Houlgate und Honfleur; weil gerade Ebbe war, hievte er sein Fahrrad über die Mauer hinunter zum Strand und fuhr einige Kilometer auf dem nassen, harten Sand der Wasserlinie entlang. Der Sand war gelb, das Meer war grün und wurde zum Himmel hin blau; die wenigen Kinder, die im Sand spielten, trugen rote Badeanzüge, ihre Mütter weiße Röcke; manchmal standen alte Männer in schwarzen Jacketts im Sand und stocherten mit ihren Stöcken in vertrocknetem Algengewirr.
    Weil sein Vater und der Bürgermeister von Cherbourg weit weg waren und ihn unmöglich sehen konnten, hielt Léon ein wenig Ausschau nach Strandgut. Er fand ein ziemlich langes, nicht sehr zerfranstes Stück Seil, ein paar Flaschen, ein Fensterkreuz samt Verschlussgestänge und einen halbvollen Kanister Petroleum.
    Mittags traf er in Deauville ein und abends in Rouen, wo er bei Tante Sophie übernachten sollte; zuvor aber, das hatte ihm der Vater dringend ans Herz gelegt, sollte er die Kathedrale besichtigen, weil sie eines der schönsten Zeugnisse gotischer Baukunst sei. Léon zog in Erwägung, sowohl die Tante als auch das Zeugnis gotischer Baukunst fahren zu lassen und irgendwo auf freiem Feld zu übernachten. Dann bedachte er, dass die Tage im Juni zwar lang, die Nächte aber immer noch feucht und kühl waren und dass Tante Sophie weder Mann noch Söhne in Verdun haben konnte, weil sie zeitlebens ledig geblieben war; zudem war sie berühmt für ihren Apfelkuchen. Als er bei ihr eintraf, stand sie in ihrer weiß gestärkten Schürze im Vorgarten und winkte ihm zu.
    Am dritten Tag stellte er beim Aufstehen fest, dass er fürchterlichen Muskelkater hatte. Das Treppensteigen war eine Qual, die erste Stunde auf dem Rad eine Tortur; danach ging es besser. Der Wind hatte auf Norden gedreht, Nieselregen setzte ein. Von Süden her kreuzten lange Kolonnen von Armeelastwagen seinen Weg; unter den Planen saßen Soldaten mit mürrischen Gesichtern, die Zigaretten rauchten und ihre Gewehre zwischen den Knien hielten. Mittags kam er an einem abgebrannten Bauernhof vorbei. Grüne Wicken rankten sich an schwarzen Balken empor, im Schweinekoben wuchsen junge Birken, aus den schwarzen Fensterlöchern drang modriger Kohlegeruch; im Miststock steckte eine rostige Mistgabel ohne Stiel. Er nahm sie an sich und steckte sie zu den anderen Fundsachen auf dem Gepäckträger.
    Léon wusste, dass er seinem Ziel nun nahe war; hinter dem nächsten oder übernächsten Hügel musste der Kirchturm von Saint-Luc-sur-Marne auftauchen. Tatsächlich lag hinter der nächsten Anhöhe ein Dorf mit einer Kirche, aber es war nicht Saint-Luc. Léon durchquerte das Dorf und erklomm den nächsten Hügel, fuhr hinunter ins nächste Dorf und hinauf auf den nächsten Hügel, hinter dem wiederum ein Dorf lag und hinter diesem wiederum ein Hügel. Er beugte sich tief über den Lenker, versuchte seine Schmerzen zu ignorieren und stellte sich vor, er sei eine fest mit dem Rad verbundene Maschine, der es gleichgültig war, wie viele Hügel hinter dem nächsten Hügel noch folgen mochten.
    Es war später Nachmittag, als es mit den Hügeln endlich ein Ende hatte. Vor Léon lag eine Allee, die schnurgerade über eine endlose Ebene führte. Die Fahrt in der Waagrechten war eine Wohltat, zudem schien es ihm, als schützten ihn die Platanen ein wenig vor dem Seitenwind. Da hörte er in seinem Rücken ein Geräusch – ein kurzes Quietschen, das sich in hastiger Folge gleichmäßig wiederholte und stetig lauter wurde. Léon drehte sich um.
    Was er sah, war eine junge Frau auf
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