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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition)
Autoren: Alex Capus
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den ersten Blick klar, dass die Frau nicht zur Familie gehörte. Diese kleinen, energischen Schritte und die harten Absätze, die auf den Steinplatten klangen wie Händeklatschen; dieses schwarze Hütchen mit dem schwarzen Schleier, darunter das stolz gereckte spitze Kinn; diese flinke Bekreuzigung am Weihwasserstein und der elegante kleine Knicks – das konnte keine Le Gall sein. Zumindest keine gebürtige.
    Schwarze Hütchen und flinke Bekreuzigungen liegen uns nicht. Wir Le Galls sind großgewachsene, schwerblütige Leute normannischer Herkunft, die sich mit langen, bedächtigen Schritten fortbewegen, und vor allem sind wir eine Familie von Männern. Natürlich gibt es auch Frauen – die Frauen, die wir geheiratet haben –, aber wenn ein Kind zur Welt kommt, ist es meistens ein Junge. Ich selbst habe vier Söhne, aber keine Tochter; mein Vater hat drei Söhne und eine Tochter, und dessen Vater – der verstorbene Léon Le Gall, der an jenem Morgen im Sarg lag – hatte ebenfalls vier Jungen und ein Mädchen gezeugt. Wir haben starke Hände, breite Stirnen und breite Schultern, tragen keinerlei Schmuck außer Armbanduhr und Ehering und haben einen Hang zu einfacher Kleidung ohne Rüschen und Kokarden; mit geschlossenen Augen wüssten wir kaum zu sagen, welche Farbe das Hemd hat, das wir gerade auf dem Leib tragen. Wir haben niemals Kopf- oder Bauchschmerzen, und wenn doch, verschweigen wir das schamhaft, weil nach unserer Konzeption von Männlichkeit weder unsere Köpfe noch unsere Bäuche – schon gar nicht die Bäuche! – schmerzempfindliche Weichteile enthalten.
    Vor allem aber haben wir auffällig flache Hinterköpfe, über die sich unsere angeheirateten Frauen gern lustig machen. Wird in der Familie eine Geburt vermeldet, fragen wir als Erstes nicht nach Gewicht, Körperlänge oder Haarfarbe, sondern nach dem Hinterkopf. »Wie ist er – flach? Ist es ein echter Le Gall?« Und wenn wir einen von uns zu Grabe tragen, trösten wir uns mit dem Gedanken, dass der Schädel eines Le Gall beim Transport niemals im Sarg umherkullert, sondern immer schön flach auf dem Sargboden aufliegt.
    Ich teile den morbiden Humor und die fröhliche Melancholie meiner Brüder, Väter und Großväter, und ich bin gern ein Le Gall. Obwohl manche von uns eine Schwäche für Alkohol und Tabak haben, erfreuen wir uns einer guten Aussicht auf Langlebigkeit, und wie viele Familien glauben wir fest daran, dass wir zwar nichts Besonderes, aber doch immerhin einzigartig seien.
    Diese Illusion ist durch nichts zu begründen und entbehrt jeder Grundlage, denn noch nie hat, soweit ich es überblicke, ein Le Gall etwas vollbracht, woran die Menschheit sich erinnern müsste. Das liegt erstens am Fehlen ausgeprägter Begabungen und zweitens an mangelndem Fleiß; drittens entwickeln die meisten von uns während der Adoleszenz eine hochmütige Verachtung gegenüber den Initiationsritualen einer ordentlichen Ausbildung, und viertens vererbt sich vom Vater auf den Sohn fast immer eine schwere Aversion gegen Kirche, Polizei und intellektuelle Autorität.
    Deshalb enden unsere akademischen Karrieren meist schon am Gymnasium, spätestens aber im dritten oder vierten Semester an der Hochschule. Nur alle paar Jahrzehnte schafft es ein Le Gall, sein Studium regulär abzuschließen und sich mit einer weltlichen oder geistlichen Autorität auszusöhnen. Der wird dann Jurist, Arzt oder Pfarrer und erntet in der Familie Respekt, aber auch einiges Misstrauen.
    Zu ein wenig Nachruhm gelangte immerhin mein Ururgroßonkel Serge Le Gall, der kurz nach dem Deutsch-Französischen Krieg wegen Opiumkonsums vom Gymnasium flog und Gefängniswärter im Zuchthaus von Caen wurde. Er ging in die Geschichte ein, weil er eine Gefangenenrevolte friedlich und ohne das übliche Massaker zu beenden versuchte, wofür ihm ein Häftling zum Dank mit einer Axt den Schädel spaltete. Ein anderer Vorfahr zeichnete sich dadurch aus, dass er eine Briefmarke für die vietnamesische Post entwarf, und mein Vater baute als junger Mann Erdölpipelines in der algerischen Sahara. Ansonsten aber verdienen wir Le Galls unser Brot als Tauchlehrer, Staplerfahrer oder Verwaltungsbeamte. Wir verkaufen Palmen in der Bretagne und deutsche Motorräder an die Straßenpolizei von Nigeria, und einer meiner Cousins fahndet halbtags als Detektiv für die Société Générale nach flüchtigen Kreditnehmern.
    Wenn die meisten von uns trotzdem ganz ordentlich durchs Leben kommen, so verdanken wir das zur
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