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Lenas Flucht

Lenas Flucht

Titel: Lenas Flucht
Autoren: Polina Daschkowa
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denn?«
    »Anatoli.«
    »Und ich bin Polina Sergejewna. Du kannst mich Tante Polja nennen.«
    Die alte Frau führte ihn in ein sauberes, solides Holzhaus mitten im Dorf.
    »Das Haus ist groß, aber ich heize nur noch zwei Zimmer«, erklärte sie. »Im zweiten kannst du wohnen.«
    Das Zimmerchen war hübscher, als Weiß erwartet hatte – bunte Läufer, schneeweiße gestärkte Spitzengardinchen an den Fenstern, ein runder Tisch mit einer gestickten Decke und ein eisernes Bett mit glänzenden Kugeln an allen vier Ecken.
    Allein geblieben, ließ er sich auf das Bett fallen und starrte an die Decke. So verharrte er, ohne sich zu regen, über eine Stunde.
     
    Sweta traf, wie vereinbart, gegen halb zehn bei Steven ein.
    »Ehrlich gesagt, ich mache mir Sorgen«, verkündete der Alte, als er ihr öffnete. »Lena ist von einem Mann angerufen worden, hat sich sofort angezogen und gesagt, sie müßte noch einmal rasch nach Brighton zu ihrem Freund Arseni, ihm irgendein Buch bringen.«
    »Ist sie schon lange weg?«
    »Etwa eineinhalb Stunden. Sie wollte vor Ihnen zurück sein.«
    »Darf ich mal telefonieren?«
    »Natürlich.« Steven führte Sweta zum Telefon, das im Wohnzimmer stand.
    Nachdem sie eine Nummer gewählt hatte, sagte sie rasch: »Brighton. Restaurant ›Schwarze Augen‹. Wellness-Center ›Doktor Nikiforoff‹. Deckname Doktor.« Damit legte sie auf.
    »Beruhigen Sie sich«, sagte sie zu Steven. »Ich fahre hin und hole Lena ab.«
    »Wollen Sie nicht lieber hier warten? Sie hat es doch versprochen.«
    »Sie kennen diesen Arseni nicht. Der fängt an, ihr seine Gedichte vorzulesen, und läßt sie bis zum späten Abend nicht weg.«
    »Wieso? Arseni kenne ich. Das macht mich ja so besorgt, daß nicht er am Telefon war. Er hat eine klare, tiefe Stimme, aber das war ein anderer. Und dann hat Lena sehr angespannt gewirkt. Ich spreche kein Russisch und habe nicht verstanden, was sie gesagt hat, aber ihr Tonfall und das Gesicht …«
    Ein guter Beobachter, der Alte, dachte Sweta anerkennend. Laut sagte sie so ruhig wie möglich:
    »Um so besser, wenn ich fahre.«
    »Aber vielleicht verfehlen Sie sich.«
    »Wenn sie eher da ist, dann warten Sie einfach auf mich.«
    »Mit dem Restaurant wird es heute wohl nichts mehr«, seufzte Steven, als er Sweta zum Wagen brachte.
    »Doch, doch!« Sweta schlug die Tür zu und raste ohne Rücksicht auf alle Verkehrsregeln durch die stille Straße davon.
    Nehmen wir an, überlegte sie, sie haben ihn als Geisel genommen. Er hat bei ihnen herumspioniert, und sie haben ihn dabei erwischt. Selber schuld, schließlich ist er kein Säugling mehr. Die hätten ihn sowieso kaltgemacht. Das müßte doch auch Lena begreifen. Und trotzdem ist sie hingefahren, damit sie auch mit ihr Schluß machen. Da ist sie ihnen sooft entwischt, und nun läuft sie ihnen freiwillig in die Arme! Wenn es ihr selber egal ist, könnte man das ja noch verstehen, aber das Kind … Das war’s dann wohl …
    Sweta wurde immer klarer, daß sie diese Fahrt vergebens machte. In Arsenis Höhle lagen jetzt zwei Tote. Nein, drei – das ungeborene Kind in Lenas Bauch.
    »Lieber Gott!« hörte sich Sweta plötzlich flehen. »Gib ihr eine Chance, die letzte, unmögliche Chance – ihr und dem Kind!«
    Schon von weitem sah sie die schwarzen Rauchschwaden. In der Gasse direkt vor der zweistöckigen Hütte, auf die sie zuging, standen mehrere Feuerwehrautos und Polizeiwagen, dazu ein Krankenfahrzeug.
    Die Flammen waren schon gelöscht, aber der Rauch trieb einem die Tränen in die Augen. Sweta sah, wie zwei Leichen in schwarzen Plastiksäcken herausgetragen wurden.
    Ihr Kopf war völlig leer. Was nun? Nach Hause fliegen? Ja, unbedingt. Noch heute nacht. Ihren Auftrag hatte sie erfüllt. Ihre Schutzbefohlene zu retten war ihr allerdings nicht gelungen. Andrej Iwanowitsch würde nur den Kopf schütteln und sagen: »Schade um Lena, aber da hast du nichts machen können.«
    Plötzlich fiel Sweta der alte Steven ein, der jetzt allein in seinem Haus saß und wartete. Er würde wohl nie erfahren, wo die Tochter seines Freundes geblieben war. Papiere hatte man bei den Leichen sicher nicht gefunden, und die Gesichter waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Wenn die Kerle die Leichen nicht mitgenommen hatten, um sie selber zu entsorgen, dann hatten sie sie entstellt.
    Sweta bekam kaum noch Luft, als ob ihr etwas die Kehle zuschnürte. Sie preßte die Augen fest zusammen und schüttelte den Kopf.
    Wenn ich wenigstens weinen könnte, dachte sie.
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