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Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Titel: Leichtmatrosen: Roman (German Edition)
Autoren: Tom Liehr
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versuchte, Neutralität in meine Stimme zu legen, aber das war eigentlich unmöglich, wenn ich mit Coras Mutter sprach – was glücklicherweise äußerst selten geschah.
    »Ich würde gerne mit meiner Tochter sprechen.«
    »Die ist nicht da.«
    »Oh.« Schweigen.
    »Ich sehe sie auch erst, nachdem sie bei euch war.«
    »Bei uns?« Kurz überrascht, dann erkennbar begreifend, in eine Falle getappt zu sein, die ich ohne Absicht aufgestellt hatte. Ich wurde hellhörig.
    »Ach so«, ergänzte sie rasch, aber Rosa war keine gute Schauspielerin. »Stimmt ja.«
    »Holt ihr sie vom Bahnhof ab?«, fragte ich, dem Impuls folgend, soeben eine Lüge aufzudecken.
    Rosa schwieg für einen Moment. »Sicher«, sagte sie.
    Aber Cora würde nicht mit dem Zug kommen. Vom Auftritt in Memmingen wollte sie ein Taxi nehmen; das Kuhkaff, in dem ihre Eltern lebten, war nur eine Ameisenpopellänge davon entfernt.
    »So, so.«
    »Ja. Äh. Morgen?«, riet Rosa. Ich hätte sie gerne in diesem Augenblick gesehen, zugleich triumphierend – schließlich musste sie auch begriffen haben, dass hier ein Lügengebäude einstürzte, das mich auf unselige Weise betraf – und stark verunsichert, denn ausgerechnet von mir, dem nichtswürdigen Verlierer (»Lektor? Was tun diese Leute? Bücher lesen ?«), beim Lügen ertappt zu werden, passte nicht in ihr Wertgefüge. Ich antwortete nicht.
    »Oder doch übermorgen? Ich habe meinen Kalender nicht hier.«
    »Ich auch nicht«, sagte ich schnippisch, aber ich war am Boden zerstört. In diesem Augenblick wurde mir nämlich klar, was all die kleinen Zeichen bedeuteten, die ich seit jenem verhängnisvollen Nachmittag geflissentlich ignoriert oder heruntergespielt hatte. Cora betrog mich, sie hatte nicht viel Federlesen veranstaltet, sondern einfach die nächstbeste Option gewählt: ein neuer Kerl. Sie würde nicht zu ihren Eltern fahren, sondern etwas anderes tun, mit jemand anderem. Sehr wahrscheinlich mit einem männlichen Jemand. Ich hatte ein oder zwei Typen im Verdacht, ihren Bassisten und diesen glatten Gesellen von der Booking-Agentur, mit der sie zusammenarbeitete, aber diese Verdächtigungen waren ziemlich beliebig, denn Cora hielt mich aus ihrem Musikerdasein weitgehend heraus. Es spielte auch keine Rolle, wer es war. Entscheidend war, dass es jemanden gab.
    Ich ging doch zum Kühlschrank, aber nicht, um die Wodkaflasche aus dem Eisfach zu nehmen, die dort seit unserem Einzug lag. Im Gemüsefach lagerte mein Mousse-Vorrat, das gute von »Merl«, nach dem ich süchtig war. Ich nahm fünf Becher.

    Vier Stunden später klingelte mein Wecker. Es war kurz nach sieben, ich hatte noch nicht gepackt, und in zwei Stunden würde ich die anderen drei treffen, um sechzig Kilometer insbrandenburgische Fürstenberg an der Havel zu fahren, auf ein Hausboot zu steigen und zehn Tage auf dem Wasser zu verbringen. Die Idee kam mir in diesem Moment so idiotisch vor wie Landkauf auf dem Jupiter, und sie war auch definitiv idiotisch, aber ich hatte sowieso nichts Besseres vor, der Trip war nicht stornierbar, und vielleicht würde es lustig werden, wenigstens interessant – aber daran glaubte ich nicht wirklich. Ich glaubte eigentlich überhaupt nichts mehr, nur an die vorübergehend heilende Kraft von Mousse-au-chocolat aus dem Hause »Merl«, Telefonjoker im Allgäu und die vernichtende Energie des Drei-Worte-Satzes »Hab dich lieb«. Ach ja und an Richard Dreyfuss alias Curt Henderson in »American Graffiti«.

    Henner stand neben seinem Discovery wie jemand, der nur neben seinem Auto steht, um zu zeigen, dass es sein Auto ist. Henners linker Ellbogen lag auf dem Dach, was nicht ganz einfach war, denn der teure Geländebockel war nicht nur eine Schrankwand auf Rädern, sondern eine hohe Schrankwand auf Rädern – und obwohl Henner sehr groß gewachsen war, überschritt diese Position seine Körperreichweite. Deshalb befand sich der Ellbogen über seinem eigenen, redlich ausgedünnten Scheitel. Das sah lächerlich aus, und eigentlich passte diese Geste nicht zu ihm. Aber was wusste ich schon? Wenig. Henner, eigentlich Jan-Hendrik, war Pfarrer, ein unglaublicher, zuweilen allerdings kluger Schwätzer und ein mittelmäßig guter Badmintonspieler, der sein oft ungeschicktes Taktieren auf dem Spielfeld und seine bauartbedingte Unsportlichkeit mit Zitaten aus dem Regelwerk zu kaschieren versuchte. Jan-Hendrik alias Henner glaubte – mehr als alles andere, wie ich meinte – an das geschriebene, gedruckte Wort, und seine
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