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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe
Autoren: Simon Beckett
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Trotzdem sah ich ständig auf die Uhr. Mein Blick schweifte
     unwillkürlich zu den schwarzweißen viktorianischen Bodenfliesen wenige Meter vor mir. Sofort schaute ich wieder weg, aber
     da hatte das Schachbrettmuster bereits meine Erinnerung wachgerüttelt. Das Blut vor der Wohnungstür war längst weggewischt
     worden, genauso das von der Wand darüber. Der gesamte Eingangsbereich war neu gestrichen worden, während ich noch im Krankenhaus
     gelegen hatte. Äußerlich erinnerte nichts mehr daran, was sich im vergangenen Jahr dort abgespielt hatte.
    Trotzdem kam augenblicklich Klaustrophobie in mir auf. Vorsichtig, um meine Narbe nicht zu sehr zu belasten, trug ich die
     Taschen nach draußen. Das Taxi kam, als ich gerade die Wohnungstür zumachte. Sie schloss sich mit einem dumpfen |13| Knall, der sich endgültig anhörte. Ohne einen Blick zurück wandte ich mich ab und ging zum Taxi, das Dieselschwaden verströmte.
    Ich ließ mich nur bis zur nächsten U-Bahn -Station fahren und nahm die Piccadilly-Linie nach Heathrow. Obwohl es noch zu früh für den morgendlichen Berufsverkehr war,
     saßen ein paar Leute in den Abteilen, die es mit der typischen Gleichgültigkeit der Londoner vermieden, die anderen Fahrgäste
     anzuschauen.
    Ich war heilfroh, die Stadt verlassen zu können. Es war das zweite Mal in meinem Leben, dass ich das Bedürfnis verspürte,
     London den Rücken zu kehren. Anders als beim ersten Mal, als ich nach dem Tod meiner Frau und meiner Tochter vor den Ruinen
     meines Lebens regelrecht geflohen war, wusste ich, dass ich zurückkommen würde. Aber ich benötigte etwas Abstand zwischen
     mir und den jüngsten Ereignissen. Dazu kam, dass ich seit Monaten nicht gearbeitet hatte. Durch diese Reise hoffte ich, wieder
     einen Zugang zu meinem Beruf zu finden.
    Und zu klären, ob ich überhaupt noch dafür geeignet war. Es gab keinen besseren Ort für diesen Zweck. Bis vor kurzem war die
     Forschungseinrichtung in Tennessee einzigartig gewesen; auf der ganzen Welt hatte es kein anderes Freiluftlaboratorium gegeben,
     in dem forensische Anthropologen die Verwesung an echten menschlichen Leichen studieren und wichtige Hinweise über Todeszeit
     und Todesart dokumentieren konnten. Mittlerweile war eine ähnliche Anlage in North Carolina aufgebaut worden, genau wie in
     Texas, nachdem man Bedenken wegen der dort lebenden Geier hatte entkräften können. Selbst in Indien sollte es eine geben,
     hatte ich gehört.
    Aber egal, wie viele solcher Institute es geben mochte, in |14| den Augen der meisten Menschen war allein die Anlage in Tennessee
die
Body Farm. Sie befand sich in Knoxville und gehörte zum Institut für Forensische Anthropologie der Universität von Tennessee.
     Ich hatte das Glück gehabt, zu Beginn meiner Karriere dort zu forschen. Mein letzter Besuch war jedoch lange her. Zu lange,
     wie Tom Lieberman, der Direktor und mein damaliger Lehrer, mir gesagt hatte.
    Als ich in Heathrow in der Abflughalle saß und durch die Glasscheiben den langsamen und stummen Tanz der Flugzeuge beobachtete,
     fragte ich mich, wie es sein würde, wieder zurückzukommen. Während der Monate der schmerzhaften Genesung nach meiner Entlassung
     aus dem Krankenhaus – und den noch schmerzhafteren Nachwirkungen – hatte mir die Aussicht auf den einmonatigen Aufenthalt
     dort eine Perspektive gegeben. Ich hatte ihn als einen Neuanfang gesehen, den ich dringend benötigte.
    Jetzt, da ich tatsächlich unterwegs war, fragte ich mich zum ersten Mal, ob ich nicht zu viel Hoffnung in die Reise gesetzt
     hatte. Die Zweifel verließen mich auch während des langen Fluges nicht.
    Als die Maschine in Knoxville landete, grummelten noch die Ausläufer eines Unwetters, das sich aber schnell verzog. Nachdem
     ich mein Gepäck abgeholt hatte, zeigte sich am Himmel schon wieder die Sonne. Auf dem Weg vom Flughafenterminal zur Autovermietung
     atmete ich tief ein und genoss die ungewohnte Feuchtigkeit in der Luft. Die Straßen dampften und verströmten einen scharfen
     Geruch nach nassem Asphalt. Vor dem Hintergrund der sich langsam zurückziehenden blauschwarzen Gewitterwolken ließen die letzten
     Regentropfen das üppige Grün der Landschaft um den Highway beinahe flirren.
    Ich spürte, wie sich meine Stimmung aufheiterte, als |15| ich mich der Stadt näherte.
Doch, die Reise würde mir
guttun
.
     
    Jetzt, kaum eine Woche später, war ich mir nicht mehr so sicher. Ich folgte dem Pfad, der an einer Lichtung vorbeiführte,
     auf der ein
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