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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe
Autoren: Simon Beckett
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hatte ich ein Angebot
     von einer der besten schottischen Universitäten erhalten. Außerdem hatte die Forensic Search Advisory Group, eine interdisziplinäre
     Beratungsfirma, die der Polizei beim Aufspüren von Leichen half, vorsichtig Interesse an meinen Diensten bekundet. Das war
     alles sehr schmeichelhaft und hätte mich erfreuen sollen, doch ich konnte mich für keine dieser Möglichkeiten begeistern.
     Ich hatte gehofft, mein Aufenthalt hier würde das ändern.
    Bisher war das noch nicht geschehen.
    Ich seufzte und rieb unbewusst mit dem Daumen über die Narbe auf meiner Handfläche. «Alles in Ordnung bei dir?», fragte Tom
     und schaute mich von der Seite an.
    Ich schloss meine Hand um die Narbe. «Ja.»
    Er akzeptierte meine Antwort ohne Kommentar. «In der Tasche auf dem Rücksitz sind Sandwiches. Wollen wir uns die nicht teilen,
     bevor wir da sind?» Er lächelte schief. «Ich hoffe, du magst Bohnensprossen.»
    Der Wald um uns herum wurde immer dichter, je näher wir den Bergen kamen. Wir fuhren durch Pigeon Forge, einen trubeligen
     Urlaubsort, der nur aus Bars und Restaurants zu bestehen schien. Ein Diner, an dem wir vorbeikamen, war bis zu den aus Plastik
     nachgebildeten Holzblöcken im Wildweststil gehalten. Ein paar Meilen weiter erreichten wir Gatlinburg, ebenfalls eine Touristenstadt,
     deren Atmosphäre im Gegensatz zu Pigeon Forge allerdings zurückhaltender wirkte. Sie lag direkt am Fuß der Berge, und obwohl
     die Motels |24| und Läden um Aufmerksamkeit heischten, konnten sie mit dem sie umgebenden Naturschauspiel nicht mithalten.
    Nachdem wir die Stadt verlassen hatten, gelangten wir in eine andere Welt. Die Straße schlängelte sich steile, dicht bewaldete
     Hänge empor. Die Bäume warfen lange Schatten. Die Smoky Mountains, ein Teil der riesigen Appalachen, waren achthundert Quadratmeilen
     groß und erstreckten sich entlang der Grenze zwischen Tennessee und North Carolina. Sie waren zum Nationalpark erklärt worden,
     obwohl ich beim Blick aus dem Autofenster dachte, dass sich die Natur um solche Auszeichnungen wohl kaum scherte. Das hier
     war eine Wildnis, die selbst heute noch vom Menschen größtenteils unberührt geblieben war. Wenn man wie ich von einer dicht
     besiedelten Insel wie England kam, fühlte man sich angesichts dieser schieren Weite augenblicklich klein und nichtig.
    Es herrschte immer weniger Verkehr. In ein paar Wochen würde die Gegend wesentlich belebter sein, doch noch war Frühling,
     und mit der Zeit begegneten uns kaum noch andere Fahrzeuge. Nach ein paar weiteren Meilen bog Tom auf eine Schotterstraße.
    «Dürfte nicht mehr weit sein   …» Er schaute auf das am Armaturenbrett installierte Navi und spähte dann nach vorn. «Aha, wir sind da.»
    An einem schmalen Weg stand ein Schild, auf dem «Schroeder Cabins, Nr.   5   –   13» zu lesen war. Nachdem Tom abgebogen war, stöhnte das Automatikgetriebe unter der Steigung. Zwischen den Bäumen erkannte
     ich die flachen Dächer der Hütten, die in einigem Abstand voneinander im Wald lagen.
    Vor uns säumten Polizeiwagen und Zivilfahrzeuge, die wohl zum TBI gehörten, beide Seiten des Pfades. Als wir näher |25| kamen, stellte sich uns ein uniformierter Polizeibeamter in den Weg und legte eine Hand auf seine Waffe, die im Holster am
     Gürtel steckte.
    Tom hielt an und kurbelte das Fenster herunter, doch der Polizist ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.
    «Sir, hier geht’s nicht weiter. Sie müssen umdrehen und wegfahren.»
    Er sprach mit dem tiefsten Südstaatenakzent und benutzte seine Höflichkeit unerbittlich und unnachgiebig wie eine Waffe. Tom
     lächelte ihn an.
    «Alles in Ordnung. Würden Sie Dan Gardner sagen, dass Tom Lieberman da ist?»
    Der Polizist entfernte sich ein paar Schritte und sprach in sein Funkgerät. Was er zu hören bekam, schien ihn zu beruhigen.
    «Okay. Parken Sie dort hinter den anderen Fahrzeugen.»
    Tom tat, was ihm gesagt worden war. Die Nervosität, die in mir aufgekommen war, hatte sich zu einem tiefen Unbehagen verfestigt,
     als wir parkten. Ich sagte mir, dass ein paar Schmetterlinge im Bauch völlig verständlich waren; schließlich war ich nach
     meiner Genesung noch eingerostet und hatte nicht damit gerechnet, an einer Mordermittlung teilzunehmen. Aber ich wusste auch,
     dass das nicht der eigentliche Grund für meine Unruhe war.
    «Bist du dir sicher, dass es in Ordnung ist, wenn ich hier bin?», fragte ich. «Ich möchte niemandem auf die Füße
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