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Lebensbilder I (German Edition)

Lebensbilder I (German Edition)

Titel: Lebensbilder I (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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sehr reizbar und verstimmt, und Pauline, weil sie ihn damit zu erheitern glaubte, hörte ihm zu, indem er seine neueste Uebersetzung vorlas.
    Eben hatte Raphael seine Vorlesung geendet. »Nun,« fragte er, »diese Poesie scheint mehr als irgendeine frühere dir zu gefallen?«
    »In den Versen liegt etwas Trauliches und Heiteres, ich habe dergleichen noch nie gehört.«
    Raphael lächelte zufrieden.
    »Die Nachahmung also ist gelungen; was sagst du aber zu dem Gedicht?«
    »Lieber Mann, bin ich denn nicht zu unwissend, um darüber zu urteilen?«
    Verdrießlich über diese Ausflucht, entgegnete er: »Wie es dich angesprochen, wirst du sagen können, aber du hast nicht achtgegeben; was ich früher wohl dir vorlas, verstimmte dich, du läßt mich daher ruhig lesen und hörst nicht!«
    »Raphael!« verwies Pauline sanft. »Ich habe wohl achtgegeben, und was ich verstanden, scheint mir tief natürlich und wahr; alles mußte so kommen, wie es kam; die Menschen selbst haben an ihrem Elend Schuld, der Teufel ist fast überflüssig!«
    Raphael blickte sie an. »Wahrhaftig, sehr sinnreich geurteilt, fahr nur fort!«
    Pauline, erfreut, ihn erheitern zu können, schwatzte sorglos weiter. »Was soll daraus werden, wenn zwei Geschöpfe, wie Faust und Gretchen, sich zu lieben glauben? Die ganze Menschheit liegt zwischen ihnen und trennt sie. Er ist so verwegenen, kühnen Geistes, als sie einfältig und albern, nur eine Art von Irreligiösität haben sie miteinander gemein: er die Irreligiösität des Geistes, sie jene der Dummheit; daher das wunderliche Gespräch über Christentum, was den horchenden Teufel recht belustigen mag.«
    »Und du findest Gretchen nicht reizend, nicht der Teilnahme wert?«
    »Reizend? sie mit der garstigen, rauhen Hand, die nichts kann als fegen, stricken, kochen, waschen, Kinder warten? – Wie kommt er darauf, die Hand ihr küssen zu wollen?«
    »Und ihre Liebe zu dem ungestümen Manne und ihr Unglück rührt dich nicht?« fragte Raphael entrüstet. »Pauline, die nicht sündigen können, die kaltes Blut im Herzen tragen, sollten nicht die Sittenrichterinnen spielen.«
    Sie stutzte, betrachtete ihn ängstlich, und da sie seinen Unwillen gewahrte, sagte sie sanft und bescheiden: »Ich bin deine Gattin, Raphael, nicht Beurteilerin ausländischer Dichter, und als deine Gattin habe ich mich über Gretchens Leichtsinn, über den Betrug gegen ihre Mutter, um ihren Geliebten einzulassen, der sie zur Mörderin macht, noch nicht so weit beruhigen können, sie zu bemitleiden. Ich dachte, dir einen Gefallen zu tun, indem ich rede; weil es dich kränkt, laß mich jetzt schweigen!«
    »Du hast dein eigenes Urteil gesprochen!« fuhr Raphael schmerzlich fort, »wir sind Faust und Gretchen, die ganze Menschheit liegt zwischen uns. Du hast mich nie geliebt, du kannst nicht lieben und duldest nicht einmal, daß ich dich liebe, so gern ich's möchte.«
    »Ist das dein Ernst? sprichst du vom Herzen?«
    Er schwieg, in tiefen Schmerz, wie es schien, versunken.
    »Mindestens solltest du geflissentlich mich nicht kränken,« fuhr sie klagend fort; »wärst du nicht ungerecht gegen mich, so würdest du eingestehen, daß ich alles, was ich deinen Augen absehe, dir zu Liebe tue. Doch ich will dir keine Vorwürfe machen; du quälst mich, weil du selber leidest. Ich sagte dir an jenem ersten Abend schon, wo du mir das deutsche Märchen vorlasest, daß du in solchen Gedanken nicht glücklich sein kannst; du bist es nicht, und deshalb bin ich's auch nicht. Gedenkst du jenes Abends noch? Ich weinte die ganze Nacht. Das Märchen hatte mein kindisches Herz zu einem Weh der Verzweiflung aufgereizt. Alle Menschen, das ganze Dasein, selbst die Tiere schienen mir des tiefsten Mitleids wert, bloß weil sie lebten und allen Schmerzen und Betrübnissen der Welt ausgesetzt waren. Vor allem aber weinte ich um dich, denn in deiner Brust glaubte ich das Weh des ganzen Alls vereint. Aber du achtetest meiner nicht, gewahrtest nicht, wie ich mit verdoppeltem Eifer mich um dich bemühte, nur um einigermaßen, und soviel ich vermochte, mit deinem unglückseligen Dasein dich auszusöhnen. Gleichgültig warst du bei meinen Tränen, als ich Abschied nahm, um nach der Pension zu gehen. Ach, ich erinnere mich noch immer deines Lächelns: du spottetest der Teilnahme eines Kindes. Du aber gleichst dem Faust sehr, und findet Faust je eine weibliche Seele, die ihn liebt, so, Raphael, mag sie für ihn fühlen, wie ich, die damals Abschied von dir nahm. Ich war
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