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Leben lassen - ein Mira-Valensky-Krimi

Leben lassen - ein Mira-Valensky-Krimi

Titel: Leben lassen - ein Mira-Valensky-Krimi
Autoren: Wien/Bozen Folio Verlag
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geht, aber auch da ist das Tuch davor, ich lasse mich fallen. Wollte ich es oder bin ich zusammengesackt? Meine Knie werden groß wie Luftballons und ganz weich. Es zieht mir etwas über den Kopf und bindet es am Hals zu. Will es mich erwürgen? Nein. Ein dickes Klebeband um meinen Hals. Ein Sack über meinem Kopf. Ich will sehen, ob auch der weiß ist, aber ich sehe nichts mehr. Ich rieche Erde. Ich versuche mich in der Erde festzukrallen, aber meine Hände schließen und öffnen sich nur ganz langsam, sie sind zu Seeanemonen geworden. Du darfst nicht tauchen, Mira. Es ist gefährlich, so lange mit dem Kopf unter Wasser. Es keucht. Es wirft mich in eine Art Truhe, meine Rippen, jetzt ist eine Rippe gebrochen, sie wird mir in die Lunge stechen, aber die Lunge ist sowieso leer. Ich muss raus aus der Kiste, aber ich kann meine Beine nicht bewegen, es ist, als wären sie nicht mit in der Kiste. Hat es meine Beine mitgenommen? Nein, sie hängen irgendwo. Mira. Versuche zu denken. Das ist keine Kiste, sondern eine Schubkarre oder so etwas. Es keucht. Es fährt mit mir über die Baustelle. Ich kann nicht aufstehen. Oder will ich nicht aufstehen? Habe ich die Nummer von Vesna gewählt? Ich hab noch auf eine Taste gedrückt. In der Tasche. Vesna hat mich angerufen. Ich habe sie zurückgerufen. Oder es war eine andere Taste? Es wird mich hinauffahren zur Recyclinganlage. Aber die läuft ja nicht. Es wird sie einschalten. Ich muss da raus. Ich probiere es. Zu viel Watte im Hirn. Nur nicht ohnmächtig werden. Jetzt fährt es mich schon stundenlang über das Baustellengeröll. Ich höre sein Keuchen. Selbst schuld. Ich wiege fünfundsiebzig Kilo. Vielleicht auch nur noch vierundsiebzig, ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal gegessen habe. Carmen. Weis? Zerwolf? Nein, der ist tot. Man lebt. Man hat gelebt. Nein! Ich sauge die Lungen voll Luft, dreimal, ich schreie und bäume mich gleichzeitig auf. Ein Schlag. Ein Knüppel. Eine Stange. Aber es hat nicht getroffen, der harte Gegenstand knallt auf die Schubkarre. Ich werfe mich zur Seite, die Schubkarre kippt. Ich muss auf die Beine, ich sehe nicht, wo oben und unten ist. Kann man das fühlen? Watte im Hirn. Sack vorm Gesicht. Er muss runter. Es hat ein Klebeband herumgetan. Mein Hals schmerzt. Es hat es viel zu eng um meinen Hals getan. Wieder ein Schlag. Wieder nicht getroffen. Oben. Unten. Konzentriere dich, Mira. Du kannst auch mit einem Sack vor dem Gesicht rennen.
    Ein dumpfer Knall. Wieder daneben. Oder hat es auf mich geschossen? Schalldämpfer. Aber kein Schmerz. Kein zusätzlicher Schmerz. Vielleicht macht das dieses Mittel, das die Knie zu Ballongröße aufbläst. Ein Stöhnen. Das kann nur ich gewesen sein. Ich höre mich stöhnen, als wäre ich jemand anderer. Sagt man nicht, dass man vor dem Tod neben sich selbst steht? Wo bist du, Mira? Wo bin ich? Jemand reißt am Klebeband, ich wehre mich, so gut es geht. Es ist stärker, ich trete um mich.
    „Hören Sie endlich auf damit“, keucht jemand.
    Ich kenne die Stimme. Es ist die Stimme von Weis. Ich hab mich nicht getäuscht. Aber jetzt ist es zu spät. Nie ist es zu spät. Er zieht mir den Sack vom Kopf. Ich blinzle. Es ist Nacht geworden. Aber alles ist hell gegen das Dunkel im Sack. Ich überlege fieberhaft. Es geht noch viel zu langsam. Weis scheint sich sicher zu fühlen. Ich muss mich konzentrieren. Alle Energie zusammennehmen. Ich versuche ihn mit all meiner Kraft wegzustoßen, wegstoßen und dann rennen. Weg von der Recyclinganlage. Er taumelt, er hält mich fest.
    „Begreifen Sie nicht? Verdammt, ich hab Sie gerettet“, keucht er.
    Manipulativ bis zum Letzten. Ich versuche ihn abzuschütteln, er lässt mich so abrupt los, dass ich falle. Und im Fallen sehe ich, dass noch jemand gefallen sein muss. Eine Halluzination. Oder bin ich es, die dort liegt? Nur ein paar Schritte entfernt von mir? Bin ich schon drüben? Die Gestalt sieht anders aus. Die Gestalt trägt eine weiße Ganzkörperverschleierung. Ich hole vorsichtig Luft und sehe auf. Weis steht über mir. Er atmet immer noch schwer. „Es war Berger“, sagt er.
    Ich schüttle den Kopf. Ich rapple mich wieder auf. Aber ich greife nicht wieder an. Ich renne auch nicht davon. Es geht nicht, irgendwie. Weis steht über dem von Erde und Asphaltstaub graubraun gewordenen Gespenst und zieht ihm sein Gewand über den Kopf. Weis hat Berger ermordet. Weis wollte mich … Oder hat Berger mich …? Ich schleppe mich die paar Meter zu den beiden.
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