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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition)
Autoren: David Wagner
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Blutspritzer, zu sehen, ich kratze sie ab und bewege meinen Arm ein paarmal hin und her, bis der Sekundenzeiger wieder anspringt. Die Uhr geht, zeigt aber nicht die richtige Zeit. Manchmal, wenn ich ein wenig Kraft übrig habe, bewege ich den Arm, damit sie nicht so bald wieder stehenbleibt. Dann komme ich mir vor, als winkte ich jemandem, der gar nicht da ist, zu.

23
    Ich schlafe in einer Außenkabine, in der Bordwand ein Bullauge, ich sehe Wasser, viel Wasser, manchmal zieht eine Insel vorbei, ein U-Boot taucht auf, ein Eisberg treibt dahin oder ein einsamer Schwimmer, der fast schon aufgegeben hat. Das muß die Vergangenheit sein.
    Ich habe mich eingeschifft, ich bin an Bord, es geht einmal durch mein Krankenzimmer, vom Kissen zum Nachtschrank, vom Nachtschrank zum Wandschrank, vom Wandschrank zum Tisch, auf den Stuhl, ans Fenster, ins Bad, zum Fernseher an der Wand und weiter. Ich bin unterwegs, im Bett geht es hinaus, der Transport schiebt, die Krankheit ist die große Reise, le grand tour , einmal in die Unterwelt und vielleicht zurück. Krankheit ist vakante Zeit, ist, habe ich das nicht irgendwo gelesen, die Reise der Armen.

24
    Eine blaue Ecke Himmel oben im Fenster, ich rieche die Rosen auf dem Nachttisch und die frische, noch steife Bettwäsche, mir gefallen die eingewirkten blaßblauen Streifen, der Stoff liegt glatt auf meiner Haut. Schöne Blumen auf Ihrem Nachttisch, sagt die Schwester, draußen leuchtet der Tag, was dem, der nicht hier ist, vielleicht gar nicht auffällt. Sie legt mir, wie jeden Tag, die Manschette des Blutdruckmeßgeräts um den Oberarm, schließt den Klettverschluß – Blutdruckmeßgeräte, das habe ich schon bemerkt, haben sehr laute Klettverschlüsse, ich freue mich schon auf das Geräusch, wenn sie den Verschluß gleich wieder öffnet –, pumpt die Manschette mit dem Ball in ihrer linken Hand auf und läßt die Luft anschließend langsam ab, sie hat das Endstück des Stethoskops auf die Haut meiner Armbeuge gepreßt, horcht und behält das Manometer im Auge. Eigentlich bräuchte sie mehr Hände, eine für das Stethoskop, eine zur Regulierung des Ventils am Manometer, eine für meinen Arm. Sie hat allerdings, wie ich, nur zwei.
    Mir gefällt die Berührung.

[zur Inhaltsübersicht]
    Mein weißer Wal
    Nach neun Tagen darf ich nach Hause. Das Apfelmus steht noch auf dem Tisch, die Badewanne sieht nicht schön aus. Die Tochter ist zurück von ihrer Reise, kommt mit ihrer Mutter vorbei und wundert sich, sie ist ja erst drei, über diesen schwachen Vater. Geh doch richtig, sagt sie, als ich aufstehe und ein, zwei, drei, vier Schritte versuche. So mußt du gehen, sagt sie und macht es mir vor: hoch aufgerichtet, gerade, ausschreitend. Ein Vater, ich erinnere mich, soll groß, stark, unverletzlich, ja unsterblich sein.
    Frau Rutschky bringt Rinderbraten, ich liege auf dem Bett, schlafe viel, schaffe es kaum bis ins Bad und schaue Serien, viele Folgen, ich habe Zeit. Ich sehe Six Feet Under und The Sopranos und Lost .
    Eine Woche später blute ich wieder, fahre wieder ins Krankenhaus, diesmal, das Blut sickert nach innen, tatsächlich mit dem Taxi. In der Notaufnahme werde ich ohnmächtig, wieder OP, wieder Ligaturen, wieder Intensivstation. Ich habe nicht mehr viel Blut, bekomme zwei Beutel Plasma.

25
    Als ich aufwache, sehe ich B. in meinem Zimmer. Er lacht und gratuliert mir: Daß ich noch da sei, daß ich noch lebte, sei ein kleines Wunder. Er spricht weiter, ich höre zu, ich mag seine Stimme, ich kenne sie ja schon lange, seit vierundzwanzig Jahren. Und ich weiß, was diese Stimme gleich sagen wird, ich weiß, daß ich wieder auf die Liste muß, ich muß zurück auf die Warteliste für eine neue Leber, auf der ich schon einmal, bis vor ein paar Monaten, stand. Sie müssen wieder auf die Liste. Ja, sage ich, ich weiß.

26
    Die Werte sind schlecht, ich muß im Krankenhaus bleiben.
    Ich liege eine Weile, langweile mich und lerne langsam wieder gehen. An der Hand einer Physiotherapeutin krieche ich über den Flur, sie ermahnt mich, die Füße zu heben, nicht zu schlurfen. Ich schlurfe weiter, weil ich sie noch einmal bitte nicht schlurfen sagen hören möchte, auch ihre Stimme gefällt mir. An ihrer Hand wanke ich bis zum Ende des Flurs und schaue, wir stehen nebeneinander, auf den Hubschrauberlandeplatz, ein großes H markiert die Landefläche. Auf einmal habe ich die Phantasie, mit ihr, der hübschen Physiotherapeutin, deren Stimme mir so gut gefällt, dort unten in einen
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