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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition)
Autoren: David Wagner
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seinen. Unten, ich höre ein Tretlager quietschen, rollt ein Fahrradfahrer im Blaumann vorbei, wahrscheinlich gehört er zum technischen Hauspersonal, er sitzt auf einem Klapprad. Sieht aus, als ob er zur Erholung spazierenfährt, er tritt sehr gemächlich in die Pedale.

31
    Ich bin zwölf, dann dreizehn, und meine Leber ist kaputt, sie war wohl länger schon entzündet. Ich habe, obwohl noch ein Kind, eine Leber wie nach fünfzig Jahren Alkoholkonsum, kann aber auch mit einer Drittel-Leber und sehr mäßigen Leberwerten weiterleben, die Werte dürfen nur nicht schlechter werden, sagt B., mein Arzt. Es beginnt eine Kombinationstherapie mit Cortison und einem Immunsuppressivum, die Entzündung klingt ab, die Zirrhose bleibt. Es geht mir gut. Es geht mir gut, bis die Probleme mit den Nebenwirkungen der Medikamente anfangen. Ich bekomme ein aufgedunsenes Vollmondgesicht, der Teenager, der ich bin, sieht aus wie ein Hamster, das Gesicht ist voller als das von Helmut Kohl. Meine Haut wird dünn, die Knochen werden weich, ich habe Osteoporose wie eine alte Frau, bekomme immer wieder Sehnenscheidenentzündungen und von der leichtesten Berührung blaue Flecken. Ich entwickle einen grünen Star, weil das Cortison den Augeninnendruck erhöht, ich muß Augentropfen nehmen, die meine Pupillen klein wie Nadelspitzen werden lassen, ich erkenne kaum mehr etwas und sehe aus, als wäre ich auf Heroin. Ich werde kurzsichtig, bekomme eine Brille und Dehnungsstreifen auf der Haut, ich nehme immer mehr Medikamente gegen die Nebenwirkungen der Medikamente, die wiederum ihre Nebenwirkungen haben. Probleme habe ich immer nur durch die Nebenwirkungen der Medikamente, nur an den Nebenwirkungen merke ich, wie krank ich bin – das ist der Satz, den ich den Ärzten immer wieder, seit bald drei Jahrzehnten, sage. Ich nehme meine Medikamente, seit dreiundzwanzig, vierundzwanzig, fünfundzwanzig Jahren, morgens, mittags und abends, und nehme die Medikamente gegen die Nebenwirkungen der Medikamente. Manchmal, bilde ich mir ein, kann ich die pharmakologische Symphonie meiner Medikamente in mir rauschen hören – wie die zusammenspielen, was für ein herrlicher Lärm.

32
    Mein Baum winkt, er winkt mit seinen Zweigen. Er winkt im Morgenlicht und winkt bei Wind, in seiner Krone eine sanfte Dünung.
    Unten steht einer der Gärtner und sprengt den Rasen, dasselbe kleine schattige Areal wie am Tag zuvor. Ja, ich glaube, er hat dort einen neuen Baum gepflanzt. Auf dem Weg eine Schubkarre, in ihr ein blauer Müllsack, zerknautscht, zur Hälfte gefüllt.

33
    Hier stockt die Zeit, sie staut sich. Eigentlich müßte ich mißmutig werden über so viel Zeit.

34
    Ich bin fünfzehn, und mein Augeninnendruck ist wegen des Cortisons so hoch, daß er alle zwei Wochen gemessen werden muß. Aber statt zu dem Augenarzt zu gehen, der seine Praxis in dem Haus gleich neben der Schule hat, fahre ich lieber in die Augenklinik, habe wieder einen Grund, die Schule nach der zweiten oder dritten Stunde zu verlassen, mit der Bahn zum Hauptbahnhof zu fahren und mich auf Umwegen, meist zu Fuß, manchmal mit dem Bus, Richtung Augenklinik, auf den Venusberg, zu begeben. Ich habe ein Buch dabei, eines, in dem ich meist doch nicht lese, und ein Notizbuch, in dem ich nichts notiere.
    Und ich bin müde. Ich bin, Begleiterscheinung einer kranken Leber, immer müde. Oder ist das, wer kann das schon wissen, bloß eine ganz allgemeine Müdigkeit? Eine, die mich wie alle anderen überfällt? Sind vielleicht alle Menschen immer so müde?
    Die Leber, mein weißer Wal, liegt, groß und ruhig und rundgeschwollen, unter meinem rechten Rippenbogen. Sie steht deutlich hervor, aber ich spüre sie nicht. Ihre Leistung sinkt nur langsam, aber sie sinkt.
    Und dann, egal, was passiert, egal, wie aufregend, außergewöhnlich, langweilig oder belanglos ein Tag ist, finde ich mindestens dreimal täglich Zeit, darüber nachzudenken, wie schön es doch wäre, tot zu sein, wie schön es doch wäre, ins Wasser zu gehen, von einem Dach zu springen oder sich eine Kugel in den Kopf zu schießen, wenn ich denn eine Pistole hätte. Und obwohl B. es mir immer wieder sagt, kann oder will ich nicht verstehen, daß meine Verstimmungen und Suizidphantasien auch eine physiologische Ursache haben, meine kaputte Leber nämlich, die mich, obwohl ich ihr nie die Schuld daran gebe, ich bin ja froh, sie zu haben, zunehmend auch daran hindert, mich länger als eine Dreiviertelstunde zu konzentrieren oder mich zu etwas
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