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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition)
Autoren: David Wagner
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Hubschrauber zu steigen und in den graumelierten Himmel zu fliegen, irgendwohin, ich träume die große Flucht. Die Physiotherapeutin aber sagt, wir müßten weiter, zurück über den Flur, vorbei an schief eingerahmten Kalenderbildern, die links und rechts an den Wänden hängen: dem Seljalandsfoss, einem Wasserfall auf Island, den Moai-Statuen auf der Osterinsel und zwei Tafelbergen bei Sonnenuntergang, Monument Valley, Utah, die Dinger aus der Zigarettenwerbung und den Western von John Ford. Das Blatt ist im Rahmen verrutscht.
    Am anderen Ende des Flurs gelangen wir zu einer Sitzgruppe, ein Tisch aus weißem Drahtgeflecht und drei Stühle stehen dort, nur zwei von ihnen haben Polster. Eine weiße Orchidee – vielleicht aus Plastik? Nein, diese Pflanzen sehen halt so aus – blüht in einem sonst leeren Regal. Immer noch an der Hand der Physiotherapeutin, sie heißt, ihr Namensschild verrät es mir, Johanna, drehe ich mich um und wanke wieder Richtung Hubschrauberlandeplatz. An der Wand fällt mir ein weiteres Kalenderbild auf, die Trauminsel Bora Bora, Französisch-Polynesien, die Farben des Fotos ausschließlich Grün, Türkis und Blau. Und ich sage: Johanna, da möchte ich mit Ihnen hin.

27
    Ich schaffe es wieder, das Leben nennt der Derwisch eine Reise, bis ins Bad. Immerhin.

28
    Tags darauf darf ich ohne Johanna über den Flur und betrachte einen Feuerlöscher, er hängt in einer Wandnische, in der auch eine Heiligenfigur stehen könnte. Ein Geländer mit Holzlauf zieht sich über die gesamte Länge des Flurs an der Wand entlang. Ich gehe sehr langsam am Stellwagen vorbei, Wundverband (steril verpackt), Fixomull stretch, Bepanthen-Salbe und Einweghandschuhe liegen bereit. Dahinter stehen zwei leere, komplett mit Klarsichtfolie überzogene Betten, warten auf neue Patienten, folienüberzogen bleiben sie keimfrei und schön frisch. Ich manövriere mich um sie herum, halte mich am Kopfteil des einen Bettes fest und bin schon wieder bei der weißen Orchidee über der Sitzgruppe aus Drahtgeflecht. Auf der Fensterbank liegt diesmal ein ZEIT-Magazin, am Vortag habe ich es nicht gesehen. Ich greife danach und schlage es auf und lese ein paar Sätze einer Reportage über eine große Müllkippe in Kairo. Das Heft gefällt mir, gefällt mir besser als sonst, es kommt mir allerdings seltsam vor. Etwas stimmt nicht. Die Autos, für die auf den ganzseitigen Anzeigen geworben werden, ein neuer Saab zum Beispiel, sind alt und unförmig, kleinere Anzeigen erwähnen Firmen, von denen ich lange nichts gehört habe. Gibt es Wang Computer überhaupt noch? Ich schaue auf die Titelseite und staune: Dieses ZEIT-Magazin ist im Jahr 1987 erschienen. 1987? Wie kommt das denn hierher? Welches Jahr haben wir jetzt? Bin ich etwa wieder fünfzehn, vierzehn, dreizehn Jahre alt?

29
    Ich bin zwölf und habe Bauchschmerzen, ich habe oft Bauchschmerzen, achte aber nicht darauf. Einmal, ich bin mit meinem Vater über Silvester im Skiurlaub, wirft ein Arzt, der Freund eines Freundes meines Vaters, einen Blick auf meinen Bauch, tastet ihn ab und entdeckt, daß meine Leber geschwollen ist. Er meint, ich müsse zu Hause zum Arzt. Eine Woche später diagnostiziert meine Hausärztin eine Leberentzündung, ich muß ins Krankenhaus, die Ärzte dort finden allerdings nicht heraus, was die Ursache der Entzündung ist, es handelt sich nicht um eine virale Hepatitis A oder B, ist aber auch keine Hepatitis Non-A-Non-B, wie die verschiedenen Formen der Hepatitis C Anfang der achtziger Jahre noch heißen. Schließlich, ich liege mittlerweile in der Bonner Universitäts-Kinderklinik und bin mehrfach punktiert worden, stellt sich heraus, daß ich eine Autoimmunhepatitis habe, mein Immunsystem hält körpereigene Leberzellen für fremdes Gewebe und bildet autoimmune Antikörper, diese Antikörper verursachen die Entzündung in der Leber. Warum das Immunsystem sich so verhält, ist bis heute nicht bekannt.

30
    Ich schaue aus dem Fenster und beobachte OP-Vorbereitungen im ersten Stock des Gebäudes gegenüber, zwei Frauen in grünem OP-Gewand stehen in einem Raum mit gekachelten Wänden. Eine streift sich gerade Gummihandschuhe über, zusammen ordnen sie Operationsbesteck, unterhalten sich dabei. Ein paar Fenster weiter und höher sehe ich einen weißhaarigen Mann in seinem Zimmer, er sitzt am Tisch und schaut hinaus. Wir schauen wohl auf denselben Baum, den Baum vor meinem Fenster, meinen Baum, den ich den ganzen Tag im Auge habe. Er hält ihn für den
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