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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition)
Autoren: David Wagner
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eigentlich schon keine Platte, keine LP mehr gekauft? LP war einmal eine wichtige, sehr vertraute Abkürzung, wer sich LPs kaufte, damals, als Musik noch gekauft wurde, war fast schon erwachsen, LP-Käufer verstanden etwas von Musik, hatten die Phase, in der sie sich bloß für einzelne Hits begeisterten und Singles kauften, schon hinter sich. Eine LP kostete Geld, viel Geld, fast einen Monat Taschengeld.

15
    Besucher bringen Blumen mit, bald sieht es aus wie in einem Blumenladen. Oder wie auf einer Beerdigung. Nach draußen, auf den Flur vor die Tür, werden die Sträuße zur Nacht nicht mehr gestellt, als Kind habe ich das im Krankenhaus noch erlebt. Die Schwester, die ich danach frage, antwortet, sie hätten genug zu tun, außerdem sei es gar nicht nötig. Solange, was viel wichtiger sei, hin und wieder gelüftet werde, bekomme jeder Patient genug Sauerstoff.

16
    Das Kind kommt mich nicht besuchen, seine Mutter meint, es solle mich nicht so sehen. Sie hat nicht unrecht, ich möchte mich so auch nicht sehen.

17
    Ich mag das frische Bettzeug. Die Bezüge und das Laken fühlen sich hart und zugleich weich und immer sauber an. Ich werde versorgt, ich werde gepflegt, alles wird für mich getan, mir wird geholfen, es geht mir gut, es geht mir immer besser, ich bin gerettet.

18
    Schaut mein Bettnachbar fern, er hat seine Kopfhörer eingestöpselt, schaue ich manchmal mit und sehe sonderbare Menschen, die sonderbare Dinge tun, ich genieße das stumme Fernsehen. Der Bildschirm hängt unter der Decke, steuern läßt er sich über die Tasten der altertümlichen elfenbeinfarbenen Telefonapparate, die auf unseren Nachttischen stehen. Fernsehen ist hier allerdings kein Vergnügen, der Monitor, ein schwerer, quadratischer Röhrenmonitor, ist viel zu weit oben montiert, zudem ist das Umschalten mühsam, für jeden Programmwechsel muß eine neue, nicht unkomplizierte Tastenkombination gedrückt werden, woraufhin der Bildschirm sich verdunkelt und dunkel bleibt, bis vier Sekunden später das gewünschte Programm aufflackert. Manchmal jedoch auch nicht. Vier Sekunden können sogar im Krankenhaus sehr lang sein, so macht Zappen keinen Spaß.

19
    Als ich dreizehn war und einige Wochen im Krankenhaus lag, schleppte mein Vater unseren kleinen Sony an. Damals gab es noch keine Fernseher auf den Zimmern, wenigstens nicht in dem Krankenhaus, in dem ich Patient war, und schon gar nicht auf der Kinderstation. Wer ein kleines, transportables Gerät hatte, brachte es mit oder ließ sich eines bringen. Meines, aus dem Arbeitszimmer meiner Mutter, eigentlich viel zu groß für den Nachtschrank, zeigte mir, wie die Raumfähre Challenger explodierte. Ich sah sie immer wieder explodieren, wieder und wieder flog sie auseinander, ein Feuerwerk, meine erste große Fernsehkatastrophe – deren Bilder sich nun in meinem Kopf mit denen der nächsten großen Fernsehkatastrophe, der einstürzenden Twin Towers, vermischen. Die Türme fallen, die Raumfähre explodiert, und mir ist auf einmal so, als hätte ich schon damals, auf der Kinderstation, als die Challenger verunglückte, gewußt, daß die Sache mit der Raumfahrt damit vorbei war. Raumfahrt war eine Zukunft der sechziger Jahre, eine Zukunft von gestern, die sich nicht realisierte. Niemand flog mehr auf den Mond, niemand brach auf zum Mars.

20
    Das Bett läßt sich verstellen. Ich kann die Liegefläche anheben und senken und Kopf- und Fußteil anwinkeln, aber ich darf es mir, denke ich, nicht zu bequem machen. Sonst will ich am Ende nicht mehr aufstehen.

21
    Samstags gibt es nur Eintopf, sonntags keine Visite. Montags weht Geschäftigkeit über den Flur, als ob für die beiden betriebsärmeren Tage davor nachgearbeitet werden müßte. Sonst unterscheiden die Tage sich nicht besonders. Eintopf gab es auch in meiner Kindheit, samstags, Erbsen oder Linsen, die einfache Küche, weil meine Mutter unterwegs war oder keine Lust zu kochen hatte.
    Ich darf wieder essen, bin dabei allerdings sehr vorsichtig. Erst einmal esse ich nur Püriertes, ich habe Angst, mich beim Schlucken zu verletzen. Könnte nicht irgend etwas, was nicht ausreichend gekaut wurde, ein scharfkantiger, zu hastig geschluckter Bissen, wieder ein Gefäß zum Platzen bringen? An das Blut in der Speiseröhre erinnere ich mich lieber nicht.

22
    Ich spüre die Armbanduhr an meinem Handgelenk, die Uhr meines Vaters, die sich selbst aufzieht, sie ist, bemerke ich, stehengeblieben. Auf dem Uhrenglas sind zwei winzige rote Flecken,
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