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Leb wohl! (German Edition)

Leb wohl! (German Edition)

Titel: Leb wohl! (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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erfahren. Seine Leidenschaften sind lebhaft; aber der erste Schlag entscheidet bei ihm über alles. Morgen wird er vielleicht außer Gefahr sein.«
    Der Arzt täuschte sich nicht, und am folgenden Tage erlaubte er dem Richter, seinen Freund wiederzusehen. »Mein lieber d'Albon,« sagte Philipp, indem er ihm die Hand drückte, »ich erwarte einen Dienst von dir! Eile schleunigst zum Kloster; erkundige dich nach allem, was die Dame angeht, die wir dort gesehen haben, und kehre schnell zurück, denn ich werde die Minuten zählen.«
    Herr d'Albon sprang auf ein Pferd und galoppierte bis zur ehemaligen Abtei. Als er ankam, bemerkte er vor dem Gittertor einen großen dürren Menschen von einnehmendem Gesicht, der des Richters Frage, ob er dies verfallene Haus bewohne, bejahte. Herr d'Albon erzählte ihm, weshalb er käme.
    »Wie!« rief der Unbekannte, »Sie hätten diesen verhängnisvollen Schuß getan? Sie hätten meine arme Kranke fast getötet!« »Aber ich habe in die Luft geschossen.« »Sie hätten der Frau Gräfin weniger geschadet, wenn Sie sie getroffen hätten.« »Nun, wir haben einander nichts vorzuwerfen, denn der Anblick Ihrer Gräfin hat meinen Freund, Herrn von Sucy, fast getötet.« »Wäre es der Baron Philipp von Sucy?« rief der Arzt, indem er die Hände zusammenschlug. »Ist er in Rußland gewesen, beim Übergang über die Beresina?« »Ja,« erwiderte d'Albon, er wurde von den Kosaken gefangen genommen und nach Sibirien gebracht; vor etwa elf Monaten ist er zurückgekehrt.« »Treten Sie ein«, sagte der Unbekannte, indem er den Richter in einen Salon im Erdgeschoß des Wohnsitzes führte, wo alles die Spuren launischer Zerstörung trug. Kostbare Porzellanvasen lagen zerbrochen neben einer Uhr, deren Gehäuse verschont geblieben war. Die seidenen Vorhänge vor den Fenstern waren zerrissen, während der doppelte Musselinvorhang heil war. »Sie sehen«, sagte er beim Eintritt zu Herrn d'Albon, »die Verwüstungen, die das reizende Geschöpf anrichtet, dem ich mich gewidmet habe. Sie ist meine Nichte. Trotz der Ohnmacht meiner Kunst hoffe ich, ihr eines Tages die Vernunft zurückzugeben, wenn ich eine Methode anwenden kann, die zum Unglück nur reichen Leuten erlaubt ist.« Dann erzählte er, wie alle Leute, die in der Einsamkeit wohnen, von einem wiederauflebenden Schmerz gequält, dem Richter ausführlich das folgende Abenteuer, dessen Bericht hier geordnet und von den zahlreichen Abschweifungen befreit wurde, die sowohl Erzähler wie Hörer sich gestatteten.

Als Marschall Viktor gegen neun Uhr abends die Höhen von Studjanka verließ, die er am 28. November 1812 den ganzen Tag hindurch verteidigt hatte, ließ er dort etwa tausend Mann zurück, die beauftragt waren, diejenige der beiden Brücken über die Beresina, die noch übrig war, bis zum letzten Augenblick zu halten. Diese Nachhut hatte sich geopfert, um den Versuch zu wagen, ob man eine erschreckende Menge von Nachzüglern, die von der Kälte erstarrt waren und sich hartnäckig weigerten, den Train des Heeres zu verlassen, retten konnte. Der Heroismus der großherzigen Truppe sollte nutzlos sein. Die Soldaten, die in Massen am Ufer der Beresina zusammenströmten, fanden dort zum Unglück ungeheure Mengen von Wagen, Munitionsfuhrwerken und Geräten jeder Art, die das Heer hatte im Stich lassen müssen, als es während der Tage des 27. und 28. Novembers den Übergang vollzog. Als Erben unverhoffter Reichtümer bezogen diese vom Frost abgestumpften Armen die leeren Biwake. Sie zerbrachen das Material des Heeres, um sich Hütten zu bauen; sie entzündeten mit allem, was ihnen unter die Hände kam, Feuer; sie zerlegten die Pferde, um sich zu sättigen, rissen Tuch und Leinwand von den Wagen, um sich zuzudecken, und schliefen ein, statt ihren Weg fortzusetzen und während der Nacht die Beresina zu überschreiten, die ein unerhörtes Verhängnis der Armee schon so sehr hatte zum Verderben werden lassen.
    Die Abstumpfung der armen Soldaten kann nur der verstehen, der sich erinnert, wie er durch diese ungeheuren Schneewüsten gezogen ist, ohne einen anderen Trunk als den Schnee, ohne ein anderes Bett als den Schnee, ohne eine andere Aussicht als auf einen Horizont von Schnee und ohne andere Nahrung als den Schnee oder ein paar erforene Runkeln, ein paar Handvoll Mehl und ein wenig Pferdefleisch. Halb tot vor Hunger und Durst, Ermattung und Schlafsucht, kamen diese Unglücklichen zu einem Ufer, an dem sie Holz, Feuer, Lebensmittel, unzählige
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