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Leb wohl! (German Edition)

Leb wohl! (German Edition)

Titel: Leb wohl! (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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hervortraten.
    »Heda, Frau!« rief Herr von Sucy. Sie kam langsam ans Tor, indem sie die beiden Jäger mit alberner Miene ansah; bei ihrem Anblick entschlüpfte ihr ein mühsames und gezwungenes Lächeln. »Wo sind wir? Was für ein Haus ist das da? Wem gehört es? Wer seid Ihr? Gehört Ihr hierher?« Auf diese Fragen und noch eine Menge anderer, die beide Freunde nach und nach an sie richteten, antwortete sie nur durch ein paar Kehllaute, die mehr von einem Tier als von einem menschlichen Wesen zu kommen schienen. »Sehen Sie nicht, daß sie taubstumm ist?« sagte der Richter. »Minimen!« rief die Bäuerin. »Ah, sie hat recht; es könnte sehr wohl das ehemalige Kloster der Minimen [Fußnote: Orden der Minimen, dessen Stifter François de Paule von Ludwig XI. gewöhnlich ›Bonhomme‹ genannt wurde; daher der im Original stehende Name›Bons-hommes‹.] sein«, sagte d'Albon. Die Fragen begannen von neuem. Aber die Bäuerin errötete wie ein launisches Kind, spielte mit ihrem Holzschuh, drehte den Strick der Kuh, die wieder zu weiden begann, und sah die beiden Jäger an, deren Kleidung sie in allen Einzelheiten studierte; sie kläffte, grunzte, gluckste, aber sie sprach nicht. »Du heißt?« fragte Philipp, indem er sie starr ansah, als wollte er sie bezaubern. »Genoveva«, erwiderte sie mit einem stumpfsinnigen Lachen. »Bislang ist die Kuh das vernünftigste Wesen, das wir gesehen haben«, rief der Richter; »ich werde einmal einen Schuß in die Luft schicken, damit jemand kommt.«
    In dem Augenblick, als d'Albon zu seiner Waffe griff, hielt der Oberst ihn durch eine Geste zurück und zeigte ihm mit dem Finger die Unbekannte, die ihre Neugier so sehr gereizt hatte. Diese Frau schien in tiefes Sinnen versunken zu sein, und sie kam langsamen Schrittes durch eine ziemlich entfernte Allee daher, so daß die beiden Freunde Zeit hatten, sie prüfend zu betrachten. Sie trug ein Kleid aus ganz abgenutztem schwarzem Satin. Ihr langes Haar fiel ihr in zahlreichen Locken auf die Stirn und um die Schultern; es reichte ihr bis über den Rumpf hinab und diente ihr als Schal. Da sie ohne Zweifel an solche Unordnung gewöhnt war, so strich sie sich die Locken nur sehr selten auf beiden Seiten von den Schläfen zurück; dann aber bewegte sie den Kopf mit einem jähen Ruck, den sie nicht zu wiederholen brauchte, um ihre Stirn oder ihre Augen von dem dichten Schleier zu befreien. Ihre Geste hatte übrigens wie die eines Tieres jene wundervolle mechanische Sicherheit, die bei einer Frau als ein Wunder erscheinen konnte. Die beiden Jäger sahen sie zu ihrem Staunen mit der Leichtigkeit eines Vogels auf den Ast eines Apfelbaums springen und sich dort festhalten. Sie griff nach den Früchten und aß sie. Dann ließ sie sich mit der anmutigen Weichheit, die man bei den Eichhörnchen bestaunt, zu Boden fallen. Ihre Glieder besaßen eine Biegsamkeit, die selbst ihren geringsten Bewegungen den Schein der Anstrengung oder Unbequemlichkeit nahm. Sie spielte auf dem Rasen und wälzte sich, wie es ein Kind hätte tun können. Dann streckte sie plötzlich Füße und Hände von sich und blieb ausgestreckt auf dem Grase liegen, und zwar mit der Schmiegsamkeit, der Anmut und der Natürlichkeit einer jungen Katze, die in der Sonne schläft. Der Donner hatte in der Ferne gegrollt; sie warf sich plötzlich herum und erhob sich mit der wunderbaren Behendigkeit eines Hundes, der einen Fremden kommen hört, auf alle viere. In dieser wunderlichen Haltung trennte sich ihr schwarzes Haar plötzlich in zwei breite Strähnen, die zu beiden Seiten ihres Kopfes herabfielen und beiden Zuschauern dieser Szene erlaubten, ihre Schultern zu bewundern, deren weiße Haut leuchtete wie die Maßliebchen der Wiese, und einen Hals, dessen Vollkommenheit einen Schluß zuließ auf die übrigen Proportionen ihres Körpers.
    Sie ließ einen schmerzlichen Schrei ertönen und erhob sich ganz auf die Füße. Ihre Bewegungen gingen so anmutig ineinander über, sie wurden so behend ausgeführt, daß sie nicht ein menschliches Geschöpf, sondern eine jener Töchter der Luft zu sein schien, wie Ossian sie feiert. Sie ging auf eine Wasserfläche zu, schüttelte leicht das eine Bein, um den Schuh abzuwerfen, und schien sich darin zu gefallen, daß sie den alabasterweißen Fuß im Wasser benetzte; zweifellos bewunderte sie die Wellen, die sie hervorrief und die Geschmeiden glichen. Dann kniete sie am Rande des Beckens hin und vergnügte sich wie ein Kind damit, ihre langen Locken
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