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Leb wohl! (German Edition)

Leb wohl! (German Edition)

Titel: Leb wohl! (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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ein Seemann ›Land! Land!‹ gerufen hätte. Dann eilte er lebhaft durch ein ziemlich wildes Dickicht; und der Oberst, der in tiefes Sinnen versunken war, folgte ihm mechanisch. »Ich will lieber hier eine Omelette, hausbackenes Brot und einen Stuhl vorfinden, als nach Cassan gehen, um Diwane, Trüffeln und Bordeauxwein zu suchen!« Diese Worte waren ein Begeisterungsruf, der dem Rat beim Anblick einer Mauer entfuhr, deren weißliche Farbe sich in der Ferne von der braunen Masse der knorrigen Stämme des Waldes abhob. »Aha, das sieht mir ganz nach einer alten Abtei aus!« rief der Marquis d'Albon von neuem, als er zu einem alten schwarzen Gitter kam, durch das er mitten in einem recht geräumigen Park einen Bau im Stil der einstigen Klostergebäude erblickte. »Wie diese Mönchshalunken sich den Ort zu wählen wußten!«
    Dieser neue Ausruf zeugte für die Überraschung des Richters, als sich seinen Blicken ein poetischer Landsitz darbot. Das Haus lag auf halber Höhe am Hang des Berges, auf dessen Gipfel das Dorf Nerville liegt. Die großen hundertjährigen Eichen des Waldes, der rings um diesen Bau einen ungeheuren Kreis beschrieb, machten ihn zu einer wahren Einsiedelei. Das abgesonderte Gebäude, das einst für die Mönche bestimmt war, lag nach Süden zu. Der Park schien etwa vierzig Morgen groß zu sein. Um das Haus erstreckte sich eine grüne Wiese, die von mehreren klaren Bächen und scheinbar ohne künstliche Nachhilfe anmutig angelegten Wasserflächen glücklich durchschnitten wurde. Hier und da erhoben sich grüne Bäume von gefälligen Formen und mannigfaltigem Laub; und ferner gaben geschickt gruppierte Grotten, wuchtige Terrassen mit verfallenen Treppen und verrosteten Geländern dieser wilden Einöde ein besonderes Gepräge. Die Kunst hatte ihre Bauten zierlich mit den malerischsten Gebilden der Natur geeint. Es war, als müßten die menschlichen Leidenschaften ersterben am Fuß dieser großen Bäume, die dem Lärm der Welt den Eingang zu diesem Zufluchtsort wehrten, wie sie auch die Gluten der Sonne milderten.
    ›Was für eine Unordnung!‹; sagte Herr d'Albon bei sich selber, nachdem er den düstern Ausdruck genossen hatte, den die Ruinen dieser wie von einem Fluch getroffenen Landschaft zeigten.
    Das Ganze glich einem Unheilsort, den die Menschen verlassen haben. Überall hatte der Efeu seine vielfach gewundenen Stränge und reichen Tücher aufgehängt. Braunes, grünliches, gelbes und rotes Moos goß seine romantischen Töne über die Bäume, die Bänke, die Dächer und Steine. Die wurmstichigen Fenster waren vom Regen angenagt, von der Zeit verwittert; die Balkone waren zerbrochen, die Terrassen verwüstet. Einige Jalousien hingen nur noch in einer Angel. Die rissigen Türen schienen einem Angreifer nicht mehr standhalten zu können. Die mit den leuchtenden Büschen der Mistel behangenen Äste der vernachlässigten Obstbäume reckten sich weithin, ohne eine Ernte zu geben. Hohe Kräuter wuchsen in den Alleen. Diese Trümmer brachten Wirkungen von hinreißender Poesie in das Bild und erfüllten die Seele des Beschauers mit träumerischen Gedanken. Ein Dichter wäre dort sitzen geblieben, versunken in eine lange Melancholie, während er diese Unordnung voller Harmonie, diese Zerstörung, die nicht ohne Anmut war, bewundert hätte. In diesem Augenblick brachen ein paar Sonnenstrahlen durch die Ritzen der Wolken, und sie beleuchteten die fast wilde Szene mit Lichtgarben in tausend Farben. Die braunen Ziegel glänzten auf, das Moos leuchtete, phantastische Schatten glitten über das Gras und unter den Bäumen hin; tote Farben erwachten, reizvolle Gegensätze stritten miteinander, und das Laub hob sich in der Helle ab. Plötzlich verschwand das Licht. Die Landschaft, die gesprochen zu haben schien, verstummte und wurde wieder düster oder vielmehr sanft wie der sanfteste Ton einer herbstlichen Dämmerung.
    ›Das ist Dornröschens Schloß‹, sagte der Rat bei sich; er sah dies Haus bereits nur noch mit dem Blick des Grundbesitzers. ›Wem mag das nur gehören? Er muß hübsch dumm sein, daß er einen so schönen Besitz nicht bewohnt.‹
    Plötzlich stürzte eine Frau unter einem Nußbaum hervor, der rechts von dem Gitter wuchs, und ohne das geringste Geräusch eilte sie so schnell wie der Schatten einer Wolke vor dem Rat vorüber; diese Vision ließ ihn vor Überraschung verstummen. »Nun, d'Albon, was haben Sie?« fragte der Oberst. »Ich reibe mir die Augen, um herauszubekommen, ob ich schlafe
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