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Leb wohl! (German Edition)

Leb wohl! (German Edition)

Titel: Leb wohl! (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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oder wache«, erwiderte der Richter, indem er sich ans Gitter schmiegte, um zu sehen, ob er die Erscheinung noch einmal zu Gesicht bekäme. »Sie ist wahrscheinlich unter diesem Feigenbaum«, sagte er, indem er Philipp das Laub eines Baumes zeigte, der links vom Tor über die Mauer emporragte. »Wer, sie?« »Nun, kann ich das etwa wissen?« erwiderte d'Albon. »Eben erhob sich dort«, fügte er leise hinzu, »eine seltsame Frau; sie schien mir eher zu den Schatten zu gehören als zur Welt der Lebenden. Sie ist so schlank, leicht und duftig, daß sie durchsichtig sein muß. Ihr Gesicht ist weiß wie Milch. Ihre Kleider, ihre Augen und ihr Haar sind schwarz. Sie sah mich an, als sie vorübereilte; und obwohl ich nicht furchtsam bin, ist mir vor ihrem reglosen und kalten Blick das Blut in den Adern erstarrt.« »Ist sie hübsch?« fragte Philipp. »Ich weiß es nicht; ich habe nur die Augen in dem Gesicht gesehen.« »Zum Henker mit dem Diner in Cassan!« rief der Oberst aus; »lassen Sie uns hier bleiben. Mich verlangt wie ein Kind danach, in diese sonderbare Besitzung einzudringen. Sehen Sie diese rotgestrichenen Fensterrahmen und die roten Striche auf den Tür- und Fensterleisten? Ist es nicht, als wäre dies das Haus des Teufels? Vielleicht hat er die Mönche beerbt. Auf, hinter der weißen und schwarzen Dame her! Vorwärts!« rief Philipp in künstlicher Lustigkeit.
    In diesem Augenblick vernahmen die beiden Jäger einen Schrei, nicht unähnlich dem, den ein in der Schlinge gefangener Vogel ausstößt. Sie horchten auf. Das Laub einiger Büsche, die jemand streifte, klang durch die Stille wie das Murmeln einer bewegten Welle; aber obgleich sie horchten, um noch ein paar neue Laute zu erhaschen, blieb der Landsitz schweigsam, und die Erde bewahrte das Geheimnis der Schritte jener Unbekannten, wenn sie überhaupt ging.
    »Das ist doch sonderbar!« rief Philipp, indem er der Linie folgte, die die Parkmauern beschrieben. Die beiden Freunde kamen bald zu einer Allee des Waldes, die nach dem Dorfe Chauvry führte. Als sie auf diesem Wege in der Richtung nach Paris zurückgeschritten waren, standen sie plötzlich vor einem großen Gittertor und sahen nun die Hauptfassade des geheimnisvollen Wohnsitzes. Auf dieser Seite erreichte die Unordnung ihren Gipfel. Ungeheure Risse durchschnitten die Mauern dreier Gebäude, die rechtwinklig zueinander erbaut worden waren. Trümmer von Ziegeln und Schiefer lagen zerbröckelt am Boden, und verwahrloste Dächer deuteten auf völlige Vernachlässigung. Einige Früchte waren unter die Bäume gefallen und faulten, statt aufgesammelt zu werden. Auf den Grasplätzen weidete eine Kuh und trat die Blumenbeete nieder, während eine Ziege an den unreifen Weintrauben und dem Laub einer Kletterrebe naschte.
    »Hier ist alles Harmonie, und die Unordnung ist gewissermaßen organisiert«, sagte der Oberst, indem er an der Kette einer Schelle zog. Aber die Glocke war ohne Klöppel ... Die beiden Jäger hörten nur den merkwürdig scharfen Klang einer verrosteten Feder. Obgleich die kleine Tür in der Mauer neben dem Gittertor ganz verfallen war, widerstand sie doch jeder Anstrengung. »Oho! All das scheint mir sehr sonderbar«, sagte Philipp zu seinem Gefährten. »Wenn ich nicht Richter wäre,« erwiderte d'Albon, »so würde ich die schwarze Frau für eine Zauberin halten.«
    Kaum hatte er diese Worte gesprochen, so kam die Kuh an das Gitter und hielt ihnen das warme Maul hin, als triebe sie das Bedürfnis, menschliche Wesen zu sehen. Jetzt aber zog eine Frau, wenn man dem unbestimmbaren Wesen, das sich unter einer Strauchgruppe erhob, diesen Namen geben kann, die Kuh an einem Strick zurück. Die Frau trug auf dem Kopf ein rotes Tuch, unter dem ein paar blonde Haarsträhnen hervorsahen, die dem Hanf auf einer Spindel ziemlich ähnlich waren. Ein Brusttuch trug sie nicht. Ein grober abwechselnd schwarz und grau gestreifter Wollrock, der um einige Zoll zu kurz war, zeigte ihre Beine. Man hätte glauben können, sie gehöre zu einem Stamm der Rothäute, die Cooper feiert; denn ihre nackten Beine, ihr Hals und ihre Arme schienen ziegelrot angestrichen zu sein. Kein Strahl des Verständnisses belebte ihr flaches Gesicht. Ihre bläulichen Augen waren ohne Wärme und trüb. Ein paar spärliche weiße Haare vertraten die Stelle der Augenbrauen. Und schließlich war die Linie ihres Mundes so geführt, daß die schlechtstehenden Zähne, die jedoch weiß waren wie die eines Hundes, daraus
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