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Leb wohl! (German Edition)

Leb wohl! (German Edition)

Titel: Leb wohl! (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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Kräfte, die er für die eigene Rettung nicht aufgetrieben hätte. Bald stand er nur noch wenige Schritte vor einer Falte im Gelände, in der er eine junge Frau, seine Kindheitsgefährtin und seinen teuersten Besitz, untergebracht hatte, um sie vor den Kugeln zu schützen.
    Wenige Schritte vor dem Wagen hatten sich etwa dreißig Nachzügler um ein ungeheures Feuer vereinigt, das sie unterhielten, indem sie Bretter, Wagenkästen, Räder und Wände hineinwarfen. Diese Soldaten waren ohne Zweifel die letzten all der Ankömmlinge, die von der breiten Geländefurche unterhalb Studjankas an bis zu dem verhängnisvollen Fluß gleichsam ein Meer von Köpfen, Feuern und Baracken bildeten, ein lebendiges Meer, das von fast unmerklichen Bewegungen schwoll und aus dem ein dumpfes Brausen heraufklang, das bisweilen von schrecklichem Krachen durchbrochen wurde. Von Hunger und Verzweiflung getrieben, hatten diese Unglücklichen den Wagen wahrscheinlich gewaltsam durchsucht. Der alte General und die junge Frau, die sie dort auf Lumpen liegend fanden, eingehüllt in Mäntel und Pelze, lagen nun frierend vor dem Feuer. Die eine Tür des Wagens war zerbrochen.
    Sowie die Leute, die um das Feuer lagen, die Schritte des Pferdes und des Majors vernahmen, erhob sich unter ihnen ein Wutschrei, den der Hunger ihnen eingab. »Ein Pferd! Ein Pferd!« Die Stimmen verschmolzen zu einer einzigen Stimme. »Zurück! Achtung!« riefen zwei oder drei Soldaten, indem sie das Pferd aufs Korn nahmen. Philipp sprang vor seine Stute und sagte: »Halunken! Ich werde euch in euer Feuer stürzen. Da oben liegen tote Pferde, holt euch die!« »Ist das ein Hanswurst, dieser Offizier! – Eins, zwei, gehst du weg?« fragte ein kolossaler Grenadier. »Nein? Schön, wie du willst.« Ein Frauenschrei übertönte den Knall. Philipp wurde zum Glück nicht getroffen; aber Bichette, die gestürzt war, rang mit dem Tode. Drei Mann sprangen hinzu und töteten sie vollends mit den Bajonetten. »Kannibalen! Laßt mir wenigstens die Decke und meine Pistolen«, sagte Philipp voll Verzweiflung. »Die Pistolen ... gut«, erwiderte der Grenadier. »Die Decke... da liegt ein Infanterist, der seit zwei Tagen nichts mehr im Schlund gehabt hat und der in seiner elenden Jacke zittert: das ist unser General...«
    Philipp schwieg, als er einen Mann sah, dessen Schuhwerk durchgetreten, dessen Hose an zehn Stellen durchlöchert war und der auf dem Kopfe nur eine elende reifbedeckte Mütze trug. Er beeilte sich, seine Pistolen an sich zu nehmen. Fünf Leute zogen die Stute zum Feuer und begann sie so geschickt zu zerlegen, wie Pariser Schlächterburschen es nur je hätten tun können. Die Stücke waren wie durch ein Wunder abgeschnitten und wurden auf die Glut geworfen. Der Major setzte sich neben die Frau, die den Schreckensschrei ausgestoßen hatte, als sie ihn erkannte. Er fand sie reglos; sie saß auf einem Wagenkissen und wärmte sich. Sie sah ihn schweigend an, ohne ihm zuzulächeln. Da bemerkte Philipp neben sich den Soldaten, dem er die Verteidigung des Wagens anvertraut hatte; der Arme war verwundet. Von der Überzahl überwältigt, hatte er vor den Nachzüglern weichen müssen, als sie ihn angriffen; aber wie der Hund, der die Mahlzeit seines Herrn bis zum letzten Augenblick verteidigt hat, hatte er seinen Anteil an der Beute genommen: er hatte sich ein weißes Tuch als Mantel umgeschlungen. Im Augenblick beschäftigte er sich damit, ein Stück von der Stute hin und her zu drehen, und der Major sah auf seinem Gesicht, mit welcher Freude er sein Festmahl rüstete. Der Graf von Vandières, der seit drei Tagen gleichsam der Kindheit verfallen war, ruhte dicht bei seiner Frau auf einem Kissen und blickte mit reglosen Augen in diese Flammen, deren Wärme seine Erstarrung zu überwinden begann. Ihn hatten die Gefahr und die Ankunft Philipps so wenig erregt wie der Kampf, nachdem sein Wagen geplündert worden war.
    Sucy griff zunächst nach der Hand der jungen Gräfin, als wollte er ihr ein Liebeszeichen geben oder ihr sagen, welchen Schmerz er empfände, da er sie so im äußersten Elend sah; aber er verharrte neben ihr im Schweigen. Er saß auf einem Schneehaufen, der im Schmelzen zerrann; und auch er gab sich dem Glück hin, sich wärmen zu können; er vergaß die Gefahr, er vergaß alles. Sein Gesicht nahm, ihm selber zum Trotz, den Ausdruck einer fast stumpfsinnigen Freude an, und er wartete ungeduldig darauf, daß der Fetzen der Stute, den man seinem Soldaten gegeben hatte, gar
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