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Leb wohl! (German Edition)

Leb wohl! (German Edition)

Titel: Leb wohl! (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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wäre. Der Geruch des verkohlten Fleisches reizte seinen Hunger noch; sein Hunger brachte Herz, Mut und Liebe zum Schweigen. Ohne Zorn sah er die Ergebnisse der Plünderung seines Wagens. All die Leute, die rings um das Feuer lagen, hatten sich in die Decken, die Kissen, die Pelze, die Röcke, die Männer- und Frauenkleider geteilt, die dem Grafen, der Gräfin und dem Major gehörten. Philipp drehte sich um, um zu sehen, ob er noch etwas aus dem Wagenkasten retten könnte. Beim Licht der Flammen sah er das Gold, die Diamanten, das Silber; es lag umher, ohne daß jemand daran dachte, sich das geringste davon anzueignen. All diese vom Zufall um das Feuer versammelten Einzelwesen bewahrten ein Schweigen, das etwas Grauenhaftes hatte; und sie taten nichts, als was sie zu ihrem Wohlsein für nötig hielten. Das Elend war grotesk. Die von der Kälte verzerrten Gesichter waren mit einer Schmutzschicht überzogen, in die die Tränen von den Augen an bis zum untern Rande der Backen eine Furche schnitten, die für die Dicke dieser Maske zeugte. Die langen, unsauberen Bärte machten die Soldaten noch scheußlicher. Die einen waren in Frauenschals gehüllt, die andern trugen Pferdeschabracken, kotige Decken, Lumpen voll schmelzenden Reifs. Einige trugen am einen Fuß einen Stiefel, am andern einen Schuh; kurz, es war kein einziger vorhanden, dessen Kostüm nicht eine lächerliche Besonderheit aufwies. Trotz solchen die Heiterkeit anregenden Dingen blieben diese Menschen ernst und finster. Das Schweigen wurde nur durch das Knistern des Holzes unterbrochen, durch das Zischen der Flamme, das ferne Summen des Lagers und die Säbelhiebe, die die Hungrigsten gegen Bichette führten, um die besten Stücke abzureißen. Ein paar Unglückliche, die noch müder waren als die andern, schliefen; und wenn einer von ihnen ins Feuer rollte, so holte ihn niemand heraus. Diese strengen Logiker dachten, wenn er nicht tot sei, so werde ihn die Brandwunde schon veranlassen, sich an einen bequemeren Ort zu begeben. Erwachte der Unglückliche im Feuer und kam er darin um, so beklagte ihn niemand. Ein paar Soldaten sahen sich an, als wollten sie ihre eigene Ungerührtheit durch die Gleichgültigkeit der andern rechtfertigen. Die junge Gräfin sah zweimal ein solches Schauspiel und blieb stumm. Als die verschiedenen Stücke, die man ins Feuer gelegt hatte, gar waren, stillten alle ihren Hunger mit jener Gier, die uns bei den Tieren ekelhaft erscheint.
    »Das ist das erste Mal, daß dreißig Infanteristen auf einen Gaul kommen!« rief der Grenadier, der die Stute niedergestreckt hatte. Es war der einzige Scherz, der auf den Geist der Nation schließen ließ.
    Bald rollten sich die meisten dieser armen Soldaten in ihre Kleider ein, legten sich auf Bretter, auf alles, was sie vor der Berührung mit dem Schnee bewahren konnte, und schliefen ein, ohne sich um ein Morgen zu kümmern. Als der Major sich gewärmt und seinen Hunger gestillt hatte, machte ihm ein unwiderstehliches Schlafbedürfnis die Lider schwer. Während der kurzen Zeit, in der er noch gegen den Schlummer ankämpfte, betrachtete er die junge Frau, die sich mit dem Gesicht zum Feuer gewandt hatte, um zu schlafen, und die ihre geschlossenen Augen und einen Teil ihrer Stirn zeigte. Sie war in einen gefütterten Pelz und einen dicken Dragonermantel gehüllt; ihr Kopf ruhte auf einem blutbefleckten Kopfkissen; ihre Astrachanmütze, die durch ein unter dem Kinn geknotetes Taschentuch festgehalten wurde, schützte ihr Gesicht, soweit es möglich war, vor der Kälte; die Füße hatte sie in den Mantel hineingezogen. So in sich hineingerollt, glich sie tatsächlich einem Nichts. War sie die letzte der Marketenderinnen? War sie die reizende Frau, der Ruhm eines Geliebten, die Königin Pariser Bälle? Ach, selbst das Auge ihres ergebensten Freundes sah nichts Weibliches mehr in diesem Haufen von Wäsche und Lumpen. Durch die dichten Schleier, die die unwiderstehlichste Schlaftrunkenheit vor den Augen des Majors ausspannte, sah er den Mann und die Frau nur noch wie zwei Punkte. Die Flammen des Feuers, die hingestreckten Gestalten, die furchtbare Kälte, die kaum drei Schritte hinter einer vorübergehenden Hitze ihr heulendes Sausen vernehmen ließ, alles war ein Traum. Ein Gedanke drängte sich Philipp auf, der ihn erschreckte: ›Wir müssen alle sterben, wenn ich einschlafe! Ich will nicht einschlafen!‹ sagte er sich. Er schlief dennoch ein. Als er eine Stunde geschlummert hatte, wurde Herr de Sucy
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