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Leb wohl! (German Edition)

Leb wohl! (German Edition)

Titel: Leb wohl! (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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ohne das launische Tier durch diese Bewegung zu erschrecken. Doch als sie Philipp bemerkte, entlief sie mit ihrer vierfüßigen Gefährtin bis zu einer Holunderhecke; dann stieß sie jenen leisen Schrei eines erschreckten Vogels aus, den der Oberst schon vom Gitter aus vernommen hatte, als die Gräfin zum ersten Mal vor Herrn d'Albon erschienen war. Schließlich kletterte sie auf einen Eschenbaum, setzte sich in die grüne Krone und begann den ›Fremden‹ mit der Aufmerksamkeit der neugierigsten aller Nachtigallen des Waldes zu betrachten.
    »Leb wohl, leb wohl, leb wohl!« sagte sie, ohne daß die Seele diesem Wort den geringsten Gefühlston lieh. Es war die Gleichgültigkeit des Vogels, der seine Weise pfeift.
    »Sie erkennt mich nicht!« rief der Oberst verzweifelt ... »Stephanie, ich bin Philipp, dein Philipp! ... Philipp!« Und der arme Offizier ging auf den Eschenbaum zu; doch als er dem Baum bis auf drei Schritte nahe gekommen war, sah die Gräfin ihn an, als wollte sie ihn herausfordern, wiewohl ihr Auge flüchtig einen Ausdruck von Furchtsamkeit zeigte; dann entsprang sie mit einem einzigen Satz aus dem Eschenbaum in eine Akazie, und von dort in eine nordische Fichte, in der sie sich mit unerhörter Leichtigkeit von Ast zu Ast wiegte.
    »Folgen Sie ihr nicht«, sagte Herr Fanjat zum Obersten. »Sie würden eine Abneigung zwischen sich und ihr hervorrufen, die vielleicht unüberwindlich würde. Ich will Ihnen helfen, sich ihr bekannt zu machen und sie zu zähmen. Kommen Sie auf diese Bank. Wenn Sie nicht mehr auf die arme Wahnsinnige achten, so werden Sie bald sehen, wie sie sich unmerklich nähert, um Sie zu betrachten.«
    »Sie! Und mich nicht erkennen! Und mich fliehen!« wiederholte der Oberst, indem er sich mit dem Rücken gegen einen Baum setzte, dessen Laub eine Gartenbank beschattete. Der Kopf sank ihm auf die Brust. Der Doktor bewahrte Schweigen. Bald stieg die Gräfin leise aus ihrer Fichte herab, indem sie tänzelte wie ein Irrlicht und sich bisweilen den Wellenbewegungen anschmiegte, die der Wind den Bäumen mitteilte. Auf jedem Ast machte sie Halt, um den Fremden zu betrachten; aber als sie sah, daß er reglos blieb, sprang sie schließlich aufs Gras hinab, richtete sich auf und ging langsam über die Wiese auf ihn zu. Als sie sich gegen einen Baum gelehnt hatte, der etwa zehn Fuß von der Bank entfernt war, sagte Herr Fanjat mit gedämpfter Stimme zum Obersten: »Nehmen Sie unvermerkt ein paar Stück Zucker aus meiner Tasche und zeigen Sie sie ihr, dann wird sie kommen; ich verzichte gern zu Ihren Gunsten auf das Vergnügen, ihr die Näschereien zu geben. Durch den Zucker, den sie leidenschaftlich liebt, werden Sie sie daran gewöhnen, sich Ihnen zu nahen und Sie dann zu erkennen.« »Als sie noch eine Frau war,« erwiderte Philipp traurig, »fand sie keinen Geschmack an süßen Speisen.«
    Als der Oberst das Stück Zucker, das er zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand hielt, Stephanie entgegenstreckte, stieß sie von neuem ihren wilden Schrei aus und stürzte lebhaft auf Philipp zu; dann blieb sie stehen, besiegt von der instinktiven Furcht, die er ihr einflößte. Sie sah bald den Zucker an und wandte bald den Kopf wieder ab; darin jenen unglücklichen Hunden gleich, denen ihre Herren verbieten, ein Gericht zu berühren, bevor man mit langsamer Stimme einen der letzten Buchstaben des Alphabets gesprochen hat. Schließlich triumphierte die tierische Leidenschaft über die Furcht: Stephanie stürzte auf Philipp zu, streckte furchtsam die schöne braune Hand aus, um ihre Beute zu fassen, berührte die Finger ihres Geliebten, ergriff den Zucker und verschwand in einem Gebüsch. Diese furchtbare Szene entmutigte den Obersten vollends, so daß er in Tränen ausbrach und in den Salon entfloh.
    »Hätte denn die Liebe weniger Kraft als die Freundschaft?« sagte Herr Fanjat. »Ich habe Hoffnung, Herr Baron. Meine Nichte war schon in einem weit beklagenswerteren Zustand, als Sie sie jetzt sehen.« »Ist es möglich?« rief Philipp. »Sie blieb immer nackt«, erwiderte der Arzt. Der Oberst machte eine Bewegung des Grauens und erbleichte. Der Doktor glaubte in diesem Erbleichen ein paar ernsthafte Symptome zu erkennen; er betastete ihm den Puls und fand, daß er von einem heftigen Fieber befallen war. Es gelang ihm durch Bitten, ihn ins Bett zu bringen; und er verabreichte ihm eine leichte Dosis Opium, um ihm einen ruhigen Schlaf zu verschaffen.
    Acht Tage etwa verstrichen, während deren der
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