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Leb wohl! (German Edition)

Leb wohl! (German Edition)

Titel: Leb wohl! (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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der Bank lag, und eilte davon.
    »Arme Kleine!« rief der Arzt, glücklich über den Erfolg, den sein Trug gehabt hatte. Er drückte die Wahnsinnige an seine Brust und sagte, indem er fortfuhr: »Er hätte dich getötet, der Egoist! Er will dir das Leben nehmen, weil er leidet. Er versteht nicht, dich um deiner selbst willen zu lieben, mein Kind! Wir vergeben ihm, nicht wahr? Er ist von Sinnen, und du bist nur wahnsinnig. Komm, Gott allein soll dich zu sich rufen. Wir halten dich für unglücklich, weil du an unserm Elend keinen Anteil mehr nimmst, wir Dummköpfe. Aber«, sagte er, indem er sie auf seine Kniee zog, »du bist glücklich, nichts quält dich; du lebst wie der Vogel, wie das Wild ...« Sie stürzte sich auf eine junge Amsel, die umhersprang, stieß einen Freudenschrei aus, als sie sie fing, erstickte sie, sah die kleine Leiche an und warf sie unter einen Baum, ohne weiter daran zu denken. Am folgenden Tage kam der Oberst, sobald es Tag wurde, in die Gärten hinab und suchte Stephanie; er glaubte an das Glück. Da er sie nicht fand, so pfiff er. Als seine Geliebte kam, nahm er sie am Arm; sie gingen zum ersten Mal zusammen und traten unter eine Gruppe verwelkter Bäume, deren Blätter unter der Morgenbrise fielen. Der Oberst setzte sich, und sie setzte sich ihm von selber auf den Schoß. Philipp zitterte vor Wohlgefühl. »Mein Liebling,« sagte er, indem er der Gräfin glühend die Hände küßte, »ich bin Philipp!« Sie sah ihn neugierig an. »Komm,« fügte er hinzu, indem er sie drückte, »fühlst du mein Herz schlagen? Es hat nur für dich geschlagen. Ich liebe dich immer noch. Philipp ist nicht tot, er ist da, du sitzt auf seinem Knie. Du bist meine Stephanie, ich bin dein Philipp!« »Leb wohl,« sagte sie, »leb wohl.« Den Obersten schauderte. Er glaubte zu bemerken, daß seine Glut sich der Geliebten mitteile; sein durchdringender Schrei, den die Hoffnung ihm entlockte, die letzte Anstrengung einer unvergänglichen Liebe, einer wahnsinnigen Leidenschaft, wecke die Vernunft seiner Freundin. »Ah, Stephanie, wir werden noch einmal glücklich!«
    Ihrem Munde entschlüpfte ein Schrei der Befriedigung, und in ihren Augen blitzte es wie ein Verständnis auf. »Sie erkennt mich ... Stephanie!« Der Oberst fühlte, wie ihm das Herz schwoll, wie seine Wimpern feucht wurden. Aber plötzlich sah er, wie die Gräfin ihm ein wenig Zucker zeigte, den sie gefunden hatte, als sie ihn durchsuchte, während er sprach. Er hatte also jene Stufe der Vernunft, wie sie selbst die Bosheit des Affen vorausseht, für einen menschlichen Gedanken gehalten ... Philipp verlor die Besinnung. Herr Fanjat fand die Gräfin auf den Körper des Obersten hingekauert. Sie nagte an ihrem Stück Zucker und gab ihr Vergnügen durch kleine Zierereien zu erkennen, die man bewundert hätte, wenn sie bei voller Vernunft aus Scherz ihren Papagei oder ihr Kätzchen hätte nachahmen wollen.
    »Ach, mein Freund,« sagte Philipp, als er wieder zu sich kam, »ich sterbe tagtäglich, jeden Augenblick! Ich liebe zu sehr! Ich würde alles ertragen, wenn sie in ihrem Wahnsinn ein wenig vom weiblichen Charakter bewahrt hätte. Aber sie immer so zu sehen, wild und selbst der Scham bar; sie zu sehen ...« »Sie brauchten also einen Opernwahnsinn,« sagte der Doktor bitter, »und die Hingabe Ihrer Liebe ist Vorurteilen unterworfen? Nun, Herr Oberst, ich habe mir um Ihretwillen das traurige Glück entzogen, meine Nichte zu speisen; ich habe Ihnen das Vergnügen abgetreten, mit ihr zu spielen; mir habe ich nur die schwersten Aufgaben vorbehalten ... Während Sie schlafen, wache ich bei ihr; ich ... Gehen Sie, Herr Oberst, verlassen Sie sie. Verlassen Sie diese traurige Einsamkeit. Ich verstehe es, mit diesem teuren kleinen Geschöpf zu leben; ich verstehe ihren Wahnsinn, ich verfolge ihre Gesten, ich bin eingeweiht in ihre Geheimnisse. Sie werden mir eines Tages dafür danken.«
    Der Oberst verließ das Kloster, um nur noch einmal dahin zurückzukehren. Der Doktor war entsetzt über die Wirkung, die er auf seinen Gast hervorgebracht hatte; er begann ihn ebensosehr zu lieben wie seine Nichte. Wenn von den beiden Liebenden einer zu bemitleiden war, so war es sicherlich Philipp: trug nicht er allein die Bürde eines furchtbaren Schmerzes? Der Arzt ließ Erkundigungen über den Obersten einziehen und erfuhr, daß der Unglückliche sich auf ein ihm gehöriges Landgut bei Saint-Germain zurückgezogen hatte. Der Baron hatte auf Grund eines Traums einen Plan
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