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Leb wohl! (German Edition)

Leb wohl! (German Edition)

Titel: Leb wohl! (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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entworfen, wie er der Gräfin ihre Vernunft zurückgeben wollte. Ohne Wissen des Doktors verwandte er den Rest des Herbstes auf die Vorbereitungen zu diesem ungeheuren Unternehmen. Durch seinen Park floß ein kleiner Fluß und überschwemmte dort im Winter einen Sumpf, der dem am rechten Ufer der Beresina glich. Das Dorf Satout, das auf einem Hügel lag, rahmte diese Schreckensszene etwa ein, wie Studjanka die Ebene der Beresina abschloß. Der Oberst rief Arbeiter herbei, um einen Kanal ausheben zu lassen, der den räuberischen Fluß darstellen sollte, an dem Frankreichs Schätze, Napoleon und sein Heer verloren gegangen waren. Es gelang Philipp, dem seine Erinnerungen zu Hilfe kamen, in seinem Park ein Abbild des Ufers herzustellen, auf dem General Eblé seine Brücken erbaut hatte. Er errichtete Gerüste und äscherte sie ein, so daß sie den geschwärzten und halb verkohlten Bohlen glichen, die auf beiden Seiten des Flusses den Nachzüglern Kunde davon gegeben hatten, daß ihnen die Straße nach Frankreich verschlossen war. Der Oberst ließ Trümmer herbeischaffen, ähnlich denen, deren sich seine Unglücksgenossen bedient hatten, um das Floß zu bauen. Um die Täuschung, auf die er seine legte Hoffnung legte, vollkommen zu machen, verwüstete er seinen Park. Er bestellte zerfegte Uniformen und Kostüme, um ein paar hundert Bauern damit zu bekleiden. Er errichtete Hütten, Biwake und Batterien und äscherte alles ein. Kurz, er vergaß nichts von all dem, was die grauenhafteste aller Szenen wiedererwecken konnte; und er erreichte sein Ziel. In den ersten Dezembertagen, als der Schnee die Erde mit einer dicken weißen Decke bekleidet hatte, glaubte er die Beresina zu sehen. Dieses falsche Rußland war von so erschreckender Echtheit, daß mehrere seiner Waffengefährten die Szene ihres einstigen Elends wiedererkannten. Herr von Sucy hütete das Geheimnis dieser tragischen Bühne, von der man um diese Zeit in der Pariser Gesellschaft vielfach wie von einer Narrheit sprach.
    1820 stieg der Oberst Anfang Januar in einen Wagen, ähnlich dem, der Herrn und Frau von Vandières von Moskau nach Studjanka gebracht hatte, und er schlug die Richtung nach dem Walde von L'Isle-Adam ein. Die Pferde, die ihn zogen, glichen ebenfalls nahezu denen, die er mit Lebensgefahr aus den russischen Reihen geholt hatte. Er selbst trug dieselben schmutzigen und wunderlichen Kleider, die Waffen, die Kopfbedeckung wie am 29. November 1812. Er hatte sich sogar den Bart und das Haar wachsen lassen und sein Gesicht vernachlässigt, damit nichts an der schauerlichen Wahrheit fehlte.
    »Ich habe Sie erraten«, rief Herr Fanjat, als er den Obersten aus dem Wagen steigen sah. »Wenn Sie wollen, daß Ihr Plan gelingt, so zeigen Sie sich nicht in diesem Aufzug. Heute abend werde ich meiner Nichte Opium geben; während sie schläft, werden wir sie ankleiden, wie sie in Studjanka gekleidet war; dann legen wir sie in diesen Wagen. Ich werde Ihnen in einer Berline folgen.«
    Gegen zwei Uhr morgens wurde die junge Gräfin in den Wagen getragen, auf Kissen gelegt und in eine grobe Decke gehüllt. Ein paar Bauern leuchteten bei dieser sonderbaren Entführung. Plötzlich hallte ein gellender Schrei durch die Stille der Nacht. Philipp und der Arzt wandten sich um und sahen Genoveva, die halbnackt aus dem niedern Zimmer trat, in dem sie schlief.
    »Leb wohl, leb wohl, es ist aus! Leb wohl!« rief sie unter heißen Tränen. »Nun, Genoveva, was hast du?« fragte Herr Fanjat. Genoveva schüttelte mit einer Bewegung der Verzweiflung den Kopf, hob die Arme zum Himmel empor, sah den Wagen an, stieß ein langes Grunzen aus, gab sichtliche Zeichen des tiefsten Schreckens zu erkennen und kehrte wortlos ins Haus zurück.
    »Das ist ein gutes Vorzeichen«, rief der Oberst aus. »Dies Mädchen bedauert, daß sie keine Gefährtin mehr hat. Sie sieht vielleicht, daß Stephanie die Vernunft zurückerlangen wird.« »Gott gebe es!« erwiderte Herr Fanjat, dem dieser Zwischenfall Eindruck zu machen schien. Seit er sich mit dem Wahnsinn beschäftigt hatte, war er mehreren Beispielen des prophetischen Geistes und der Gabe des zweiten Gesichts begegnet, von denen gerade Geisteskranke einige Beweise geliefert haben und die sich nach mehreren Reisenden bei wilden Stämmen finden.
    Wie der Oberst es berechnet hatte, kam Stephanie gegen neun Uhr morgens über die falsche Ebene der Beresina; geweckt wurde sie durch einen Böller, der etwa hundert Schritt vor der Stelle, wo die Szene sich
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