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Last Exit

Last Exit

Titel: Last Exit
Autoren: Olen Steinhauer
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auf!«
    »Das war erst vor einer Woche?« Der Amerikaner lächelte.
    »Am fünften Dezember, dem Tag vor Mikulás.«
    »Mikulás?«
    »Nikolaus. Wenn die Kinder Stiefel voller Süßigkeiten bekommen.«
    »Fantastisch.«

    Sie riefen seine Eltern an, um ihnen die wunderbare Nachricht zu überbringen, und als er wieder reden konnte, fragten sie ihn, ob er mit jemandem telefonieren wollte – vielleicht mit der hübschen jungen Ungarin, die ihn einmal pro Woche besucht hatte?
    »Seine Freundin?«, wollte der Amerikaner wissen.
    »Zsuzsa Papp«, ergänzte eine Schwester.
    »Ich glaube, Bori ist eifersüchtig«, meinte Jana. »Sie hat sich in ihn verliebt.«
    Verlegen runzelte Bori die Stirn und stellte hektische Fragen, die von allen Seiten nur mit Lachen quittiert wurden.
    »Und – ist Zsuzsa gekommen?«
    »Ja«, antwortete eine Schwester. »Sie war überglücklich. «
    »Aber er nicht«, fiel Jana ein. Dann hörte sie kurz Bori zu. »Ich meine, er war froh, sie zu sehen, ja. Aber seine Stimmung … Er war nicht glücklich.«
    »Wie?« Der Amerikaner schien verwirrt. »War er traurig? Wütend?«
    »Er hatte Angst«, stellte Jana fest.
    »Verstehe.«
    Erneut wartete Jana Boris Ausführungen ab. »Er sagt seinen Eltern, sie sollen nicht kommen. Es ist nicht sicher, er will allein heimkehren.«
    »Er ist also nach Hause geflogen?«
    Jana zuckte die Achseln. Genau wie Bori und alle anderen.
    Niemand wusste Genaueres. Vier Tage nach dem Erwachen aus dem Koma, nur zwei Tage bevor der charmante Amerikaner eingetroffen war, um sich nach seinem Freund zu erkundigen, war Henry Gray verschwunden. Ohne ein Wort, ohne Abschied von der tief betrübten
Bori. Hatte sich einfach am späten Nachmittag heimlich hinausgestohlen, als alle Ärzte nach Hause gegangen waren und Bori zum Abendessen im Pausenraum saß.
    Bei der Erinnerung an den Verlust ihres Lieblingspatienten stiegen Bori die Tränen in die Augen, und sie verdeckte sie mit einer Hand. Der Amerikaner legte ihr die Hand auf die Schulter, was mindestens bei zwei Schwestern Neidgefühle weckte. »Bitte«, sagte er. »Wenn sich Henry bei Ihnen meldet, bestellen Sie ihm, dass sein Freund Milo Weaver nach ihm sucht.«
    Das war das Bild, das sich für Zsuzsa ergab, als Bori sie in der Redaktion der populären Boulevardzeitung Blikk anrief, um ihr von dem Ereignis zu berichten. Danach fuhr Zsuzsa ins Krankenhaus und fragte Jana und die anderen nach ihrer Version.
    Hätte sich Milo Weaver nur im Krankenhaus blicken lassen, hätte sie sich auf die Suche nach ihm gemacht. Aber er kreuzte immer wieder von allein auf, und bei jedem Erscheinen blieben seine Fragen zwar die gleichen, nicht jedoch sein Benehmen und seine Geschichte.
    Für die Krankenschwestern war er ein Freund von Henrys Familie, ein Kinderarzt aus Boston. In Henrys Stammkneipe Pótkulcs erzählten die beiden Csillas von dem kettenrauchenden Romancier Milo Weaver aus Prag, der in Henrys Wohnung übernachten wollte. Für Terry, Russell, Johann, Will und Cowall, die er alle mühelos in ihren Lieblingscafés am Ferenc-Liszt-Platz aufgespürt hatte, war er der AP-Korrespondent Milo Weaver und wollte einem Artikel über die wirtschaftlichen Spannungen zwischen Ungarn und Russland nachgehen, den Henry vor einem Jahr eingeschickt hatte. Und von einem Polizisten im sechsten Bezirk erfuhr sie, dass er sogar bei dessen Chef vorgesprochen und diesen in seiner Eigenschaft
als Anwalt von Henrys Eltern gefragt hatte, was er über das Verschwinden ihres Sohns in Erfahrung gebracht hatte.
    Bevor Henry aus dem Krankenhaus verschwand, hatte er ihr eingeschärft, niemandem zu vertrauen außer Milo Weaver, aber ihm nichts zu verraten. Es war ein Rätsel: Wozu sollte sie sich an ihn wenden, wenn sie ihm nichts sagen durfte? »Du meinst, du traust ihm nicht?«
    »Vielleicht. Ich weiß es nicht. Wenn mich nur wenige Stunden nach dem Eintreffen des Briefs jemand aus dem Fenster wirft, welchen Schutz kann ich da von einem einzigen Mann erwarten? Ich meine einfach, du sollst mit ihm reden, ihm aber nicht erzählen, wo ich bin.«
    »Wie sollte ich es ihm denn auch erzählen? Du sagst mir doch nicht, wo du hinwillst.«
    Was auch immer sich Henry einbildete, Zsuzsa hatte keine Lust, sich blindlings an seine Anweisungen zu halten. Sie verstand etwas von Journalismus – mehr noch als vom Tanzen – und wusste, dass Henry trotz seiner aktuellen Berühmtheit immer ein mittelmäßiger Reporter bleiben würde. Seine Ängstlichkeit erlaubte ihm keinen
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