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Last Exit

Last Exit

Titel: Last Exit
Autoren: Olen Steinhauer
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Henry ergriff sie unwillkürlich, und James Einner packte zu. Im gleichen Moment fuhr seine andere Hand steif nach oben und hackte seitlich gegen Henrys Hals. Schmerz spritzte durch Henrys Kopf, ihm wurde schwarz vor Augen, und sein Magen überschlug sich. Ein zweiter Schlag löschte alle Lichter aus.
    Eine Sekunde baumelte Henry an James Einners Hand, dann ließ er sie sinken, bis der Journalist auf das renovierte Holzparkett sackte.
    Einner trat zurück zum Sofa, um Henrys Umhängetasche zu durchwühlen. Er fand den Brief und zählte die Seiten, dann steckte er auch Henrys Moleskine-Notizbuch ein. Noch einmal durchkämmte er die Wohnung – das hatte er schon den ganzen Abend gemacht, aber er wollte ganz sicher sein – und nahm schließlich Grays Notebook und all seine gebrannten CDs an sich. Er verstaute alles in einer billigen Reisetasche, die er in Prag gekauft hatte, ehe er in den Zug hierher gestiegen war, und stellte sie neben die Wohnungstür. Insgesamt brauchte er
dafür ungefähr sieben Minuten, in denen im Fernsehen weiter die ungarische Popparade lief.
    Wieder im Wohnzimmer, öffnete er die Tür zur Balkonterrasse. Eine warme Brise wehte herein. Einner beugte sich hinaus und warf schnell einen Blick hinunter: überall auf der Straße parkende Autos, aber keine Fußgänger. Ächzend hob er Henry Gray auf und hielt ihn wie ein Bräutigam, der die Braut über die Schwelle trägt. Ohne Zögern – um jeden Fehler und das Auftauchen von Passanten auszuschließen, die an der prächtigen Fassade hinaufstarren mochten – kippte er den schlaffen Körper über die Brüstung. Das Krachen und das zweitönige Alarmgeheul eines Autos erreichten ihn, als er schon durchs Wohnzimmer schritt. Mit der Reisetasche über der Schulter verließ er still die Wohnung.

    2
    Vier Monate später, als der Amerikaner im Szent János Kórház – dem St.-Johann-Spital – auf der Budaer Seite der Donau auftauchte, scharten sich die englischsprechenden Schwestern in dem tristen Fünfzigerjahrekorridor um ihn, um seine Fragen zu beantworten. Zsuzsa Papp malte sich aus, dass es für einen unbeteiligten Beobachter so aussehen musste, als wäre plötzlich unerwartet ein berühmter Schauspieler erschienen, denn fast alle Schwestern flirteten mit ihm. Zwei von ihnen berührten ihn sogar am Arm, während sie über seine Witze lachten. Er war, so erzählten sie Zsuzsa später, charmant in der Art mancher Starchirurgen, und selbst die wenigen, die ihn nicht attraktiv fanden, fühlten sich gezwungen, ihm so genau wie möglich Auskunft zu erteilen.
    Zunächst korrigierten sie ihn: Nein, Mr. Gray war nicht im August im St. János eingetroffen. Im August war er ins Péterfy Sándor Kórház eingeliefert worden, und zwar mit sechs gebrochenen Rippen, einem Lungenriss, einem gesprungenen Oberschenkelknochen, zwei gebrochenen Armen und einer Schädelfraktur. Dort drüben in Pest war er von einem ausgezeichneten Chirurgen (»in London ausgebildet«, wie sie ihm versicherten) zusammengeflickt worden, danach aber nicht aufgewacht. »Die Fraktur«, erklärte eine von ihnen und berührte ihren Kopf. »Zu viel Blut.«

    Das Blut musste abfließen, und obwohl die Ärzte kaum Hoffnung hatten, verlegten sie Gray im September zur Beobachtung und Pflege ins St. János. Er war hauptsächlich von einer klein gewachsenen Schwester mit drahtigem Haar betreut worden, die Bori hieß, und Jana, ihre deutlich größere Freundin, übersetzte alles, was sie dem Amerikaner erzählte. »Wir haben – hatten – Hoffnung, Sie verstehen? Die Verletzung am Kopf ist sehr schlimm, aber sein Herz schlägt von allein weiter. Also kein Problem mit dem Kleinhirn. Aber wir warten, ob das Blut aus seinem Kopf weggeht.«
    Es dauerte mehrere Wochen. Erst im Oktober war das Blut ganz verschwunden. Während dieser Zeit wurden die Rechnungen von seinen Eltern bezahlt, die nur einmal aus Amerika zu Besuch kamen, aber dem Krankenhaus regelmäßig Geld überwiesen. »Sie wollen ihn nach Amerika bringen«, erklärte Jana, »aber wir sagen ihnen, das ist unmöglich. Nicht in seinem Zustand.«
    »Natürlich«, erwiderte der Amerikaner.
    Seine Verfassung stabilisierte sich zwar immer mehr, aber das Koma hielt an. »Diese Dinge sind manchmal ein Rätsel«, bemerkte eine andere Schwester, und der Amerikaner nickte in ernstem Verständnis.
    Doch im nächsten Moment platzte es aus Bori heraus, und sie riss freudig erregt die Hände hoch.
    Jana übersetzte: »Und dann wacht er plötzlich
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