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Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern (German Edition)

Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern (German Edition)

Titel: Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern (German Edition)
Autoren: Anja Maier
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nicht kinderfeindlich!
    Das waren nämlich ganz andere. Man kann es sich heute kaum noch vorstellen, aber damals gab es tatsächlich noch Menschen im Prenzlauer Berg, die sich Ruhe vor schreienden, lärmenden Kindern ausbaten. Wenn sich die Kleintochter mal wieder brüllend in der Kaufhalle querlegte und versuchte, auf diese Weise ihrem Wunsch nach »Bummibärchen« Ausdruck zu verleihen, beeindruckte mich das wenig. Ich stand auf dem pädagogischen Standpunkt, das Kind müsse sich jetzt mal ausschreien, irgendwann sei es leer gebrüllt und wir könnten den Wochenendeinkauf fortsetzen. Ein älterer Mann teilte diese Ansicht leider nicht. Er blieb mit seinem Einkaufswagen vor der sich am Boden windenden Kleintochter stehen, besah sich eine halbe Minute das kreischende Bündel und gab mir schließlich den Rat, dem da unten »mal richtig eine zu drömmeln, das kapieren die dann schon«.
    Okay, das waren die Neunziger. Eltern wie wir fingen gerade damit an, eine Art Nachwendepädagogik und ein anderes Leben auszuprobieren. Die ersten privaten Kitas waren erst wenige Jahre alt und krankten noch an allem, was derlei mit sich bringt: unzuverlässiger Putzdienst, nicht gezahlte Beiträge, mittags immer nur Vollkornnudeln. Unsere Kinder, von denen es im Osten nach dem Mauerfall nur noch irritierend wenige Exemplare gab, mussten nun nicht mehr zügig durchschlafen, sie wurden gestillt, solange sie das brauchten, und sie konnten so lange ihre Windeln vollmachen, wie sie wollten. Wir hatten Zeit und einen neuen Plan von Erziehung. Und dann das! Ein alter Mann, der sich nicht nur Ruhe ausbat, sondern auch gleich eine Steinzeitidee hatte, wie die herzustellen sei: eine drömmeln, ha!
    Heute ist das natürlich anders. Die Verhältnisse haben sich komplett zugunsten der Kinder und ihrer Eltern verschoben. Ihre schiere Masse verursacht selbst bei Leuten wie mir, die sich nicht durch Kinderbegleitung ausweisen können, fast so etwas wie Minderwertigkeitsgefühle. Wer hier im Bezirk unter fünfzig ist und nicht einen Unter-eins-dreißig-Menschen mit sich führt, muss lesbisch, schwul oder gynäkologisch beeinträchtigt sein. In riesigen Pulks trecken die Buggy-Armadas die Straßen entlang, auf den Gehwegen schlingern späte Mütter verkehrswidrig und lebensbedrohlich mit Kindern auf Fahrradstange und Rücksitz herum. Sie machen dabei so viel Lärm, wie sie wollen, und wenn ein Kind gesenkten Blicks in einen Passanten rennt, erntet der vorwurfsvolle Blicke, weil er dem kostbaren Nachwuchs nicht regelgerecht ausgewichen ist. Allein die Vorstellung, ein wütender Rentner würde den Erziehungsberechtigten körperliche Züchtigung empfehlen! Der Mann würde mit Name, Foto und Postanschrift noch am selben Tag auf Facebook gepostet und könnte schon mal den Umzugswagen bestellen.
    Dies wissend, bin ich eine duldsame, nette Nachbarin im Wegwarte-Zimmer. Ich höre die kleine unbekannte Nachbarin kraftvoll ihre Bauklötzer und Puppen in den Boden rammen, leide stumm, wenn ihr nebenan etwas nicht gelingt und sie in spitze Schreie ausbricht. Ich kenne inzwischen akustisch auch ihre Eltern, die sagen: »Macht nichts, probier’s halt noch mal mit dem Lego!« Und ich höre auch, wenn sie nachts beruhigend auf sie einreden, weil das Kind, aus schweren Träumen erwachend, ins Bett gemacht hat, wie es greint und ruft. Ich höre Tritte und Schritte, Flüstern und Schreien, Türen und Klötzchen. Und? Es ist okay. Das hier ist Großstadt.

B abyccino im Café Kiezkind oder
    D er Milchschaumtraum vom Helmholtzplatz

    D ie Geschichte geht so: Mutter und Kind laufen durch den Prenzlauer Berg. Es ist Winter, um die null Grad, der Kollwitzplatz liegt verlassen in der Dämmerung, nur wenige Autos kreuzen die Tempo-30-Zone. Die Mutter hält das Kind bei der Hand, sie werden bald zu Hause ankommen. Da, plötzlich, fängt es an zu schneien. Erst sind es nur ein paar zögerliche Flöckchen, die weiß zur Erde trudeln, aber schnell werden es mehr und mehr. Die Mutter zieht ihre Kapuze hoch, sie will jetzt schnell heim. Doch das Kind bleibt stehen. Es legt den Kopf in den Nacken, schaut den dicken tanzenden Flocken zu und sagt beglückt: »Guck mal, Mama. Es regnet Milchschaum!«
    Ja, so geht die Geschichte. Sie ist natürlich ein moderner Mythos, eine ironische Verarschung der viel zitierten und gescholtenen Latte-macchiato-Mütter und ihrer Kinder. Und doch steht sie, wie alle guten Witze, für etwas. Denn es gibt sie wirklich, diese Mütter. (Und übrigens auch
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