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Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern (German Edition)

Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern (German Edition)

Titel: Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern (German Edition)
Autoren: Anja Maier
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Jederzeit verfügbar. Heraus kommen Hochdruckkinder, die Mandarin und Schlagzeug lernen und deren Mütter nur noch andere Mütter kennen, die alles dafür tun, dass das Leben ihres Kindes gelingen möge. Weil sie wenigstens das zufrieden machen könnte.
    Und was ist mit ihrem Leben? Was mit Arbeit, eigenen Freunden, erwachsenen Interessen, der Beziehung? Warum sind Eltern bereit, für ihren Traum von Elternschaft und Nachkommen alle anderen Pläne fahren zu lassen? Es ist das Politische, das hier ins Private schwappt. Eine Gesellschaft, der die Sinnhaftigkeit von Arbeit verloren gegangen ist, die keine planbaren Biografien mehr kennt und als Ersatz für berufliche Entwicklung sich selbst aufgebende, steuerfinanzierte Elternschaft anbietet, ist tief verunsichert.
    Seit der Wende sind 80 Prozent der ursprünglichen Bewohner aus dem Prenzlauer Berg weggezogen. Statt ihrer sind vor allem jene gekommen, die der kleinstädtischen Enge ihres überwiegend westdeutschen Elternhauses entfliehen wollten. Sie haben in den Neunzigern noch ein bisschen Party gemacht und irgendwas mit Medien. Unterwegs ist ihnen – und zwar leider meist den Frauen – der Studienabschluss aus dem Blick geraten, erst recht, als die Kinder kamen. Dann haben sie halt das gemacht: Kinder erziehen. Und sie haben Schulen gegründet, Fahrradstraßen erstritten, Wohnungen gekauft, und schließlich sind sie wieder in die Kirche eingetreten.
    Meine Freundin Sibylle kriegt die Krise, wenn sie mir davon erzählt. Von den Buggygeschwadern, deren Wagenlenkerinnen strengen Blicks ihre Seitenstraße runtertrecken. Von den Schwaben im Bioladen, die »Des isch Berlin!« zischen, wenn das Laugengebäck mal wieder ausverkauft ist. Von den späten Müttern, die sichtlich erschöpft mit ihren Töchtern über die Blaumeise im Spielplatzgebüsch reden, als sei Kindheit ein einziges Weiterbildungsprogramm. »Das ist nicht mehr mein Viertel«, stöhnt Sibylle, »hier herrscht Familiendiktatur. Lauter Klugscheißer, die gleich die Polizei rufen, wenn’s nachts mal lauter wird. Typen, die irgendwas mit Medien oder Politik machen, Fantasiemieten zahlen können, mit Ende dreißig ihr einziges Jetzt-wird’s-aber-Zeit-Kind kriegen und dafür sorgen, dass hier inzwischen alles verkehrsberuhigt ist. Und am Sonntagmorgen pilgern sie in die Kirche zum Gottesdienst – als das Kind kam, sind sie halt doch wieder eingetreten. Ehrlich, wären die hier nicht alle so megakreativ angezogen, man könnte meinen, wir wären bei dir auf dem Dorf.«
    Ich weiß, was Sibylle meint. Und worunter wir beide leiden: unter Machtverlust und unter allgemeinem Groll. Denn das hier war mal unser Viertel. Wir haben hier einst unsere Kinder geboren, haben sie auf dem noch nicht baubiologisch sanierten Kollwitz-Spielplatz buddeln lassen. Haben die Eröffnung des ersten Bioladens und die Einrichtung der ersten Tempo-30-Zone in der Kollwitzstraße erlebt – dass wir heute beim Überqueren derselben von Radlern mit Kinderanhänger beiseitegeklingelt werden würden, hätten wir uns nie träumen lassen.
    Es konnte ja schließlich keiner ahnen, dass diese harmlos wirkenden Zugezogenen hier mal alles übernehmen würden. Die lockeren Männer und Frauen, denen wir vor fünfzehn Jahren mit unseren Kinderkarren entnervt in die Hacken gefahren sind, weil sie, den Kopf im Nacken, die Gehwege blockierten. Viel zu spät kapierten wir, dass die da keineswegs nach dem Wetter Ausschau hielten, sondern schon mal von außen die Fenster jener Wohnungen taxierten, die ihre Eltern ihnen zu kaufen beabsichtigten. Ich guckte mir das damals eine Weile an. Und ich spürte: Das ist nicht mehr meine Gegend, nicht mehr meine Auffassung vom Leben im Prenzlauer Berg, ich bin nicht mehr erwünscht. Ich schnappte Mann und Kinder, drehte von außen den Schlüssel unserer Fünf-Zimmer-Flucht um und verschleppte die ganze Bagage an den Stadtrand. Lieber langweilig im Grünen wohnen als langweilig zu gelten in einer Gegend, wo neuerdings kinderlose Medienfuzzis das Sagen hatten.
    Sibylle ist geblieben. Sie hat hier ihre Tochter großgezogen, hat erlebt, wie aus den jungen Neubürgern von einst ungemein coole Kreativpaare wurden, die so mit Ende dreißig eilig ihren Luis oder die Selma gebaren. Und sie sah mit Sorge, wie die Familiendiktatur errichtet wurde. Überall brachen plötzlich pralle Schwangerenbäuche durch die Menge, es eröffneten Kinderklamottendesigner preisungünstige Geschäfte. An den Wochenenden war in den
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