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Land der Sehnsucht (German Edition)

Land der Sehnsucht (German Edition)

Titel: Land der Sehnsucht (German Edition)
Autoren: Tamera Alexander
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eigenen Schrift hatten. Es versetzte Véronique jedes Mal einen Stich ins Herz, wenn sie die kaum leserliche Schrift sah, mit der ihre Mutter kurz vor dem Sterben geschrieben hatte. Aber der Anblick der letzten zu Papier gebrachten Gedanken ihrer Mutter erfüllte sie mit neuer Hoffnung.
    „Der Tod ist nur eine Unterbrechung, kein Ende, meine liebste Véronique.“ Véronique bemühte sich, leise zu sprechen, da sie wusste, dass ihre Stimme dadurch eher wie die ihrer Mutter klang. Das hatte man ihr in den letzten Jahren unzählige Male gesagt. Ach, wenn sie nur selbst auch diese Ähnlichkeit hören könnte, besonders jetzt! „Wenn die Lunge schließlich leer von Luft ist und beginnt, sich mit dem süßen Odem des Himmels zu füllen, erkennt man in diesem Moment, dass man zwar schon vorher existiert hat, aber erst jetzt fängt man wirklich an zu leben.“
    Die Tinte hatte eine wackelige, zittrige Linie hinterlassen, die in der Buchbindung verschwand, als hätte es den Schreiber zu viel Kraft gekostet, die Federspitze von der Seite hochzuheben.
    Christophe berührte einen kurzen Moment ihre Hand.
    Véronique schloss die Augen und eine Träne lief ihr übers Gesicht. Sie weinte immer noch, aber nicht mehr so oft. Es wurde leichter. Und schwerer.
    Ihr Blick wanderte zu dem Namen, der in den Marmor gemeißelt war: ARIANNE ELISABETH GIRARD. Dann suchte ihr Blick das kleine, ovale Porträt, das in den Stein eingebettet und von Glas geschützt war. Auf die Bitte ihrer Mutter hin hatte sie eines Nachmittags Anfang Februar kurz vor deren Tod an einer besonderen Brücke an der Seine dieses Bild gemalt. Einige von Véroniques kostbarsten Erinnerungen waren mit dieser Brücke verbunden.
    Erinnerungen an einen Mann, den sie nicht richtig gekannt hatte. Trotzdem war es für sie immer ein Kampf gewesen, ohne ihn zu leben.
    Ihre Erinnerungen an ihn waren verschwommen und trübe, ganz ähnlich wie das Wasser der Seine. Aber sie erinnerte sich daran, wie ihr Vater ihre Hand gefasst hatte. Und an den Klang seiner Stimme, als er mit Worten Bilder in ihren Kopf gemalt hatte – Bilder vom Licht der Morgensonne, das sich auf den Wellen des Wassers spiegelt und dem aufmerksamen Zuschauer ein unvergleichliches Farbenspiel enthüllt.
    Obwohl sie erst fünf gewesen war, als er fortging, erinnerte sie sich noch genau, welches Gefühl er ihr gegeben hatte, als sie gemeinsam an den Kanälen spazieren gegangen waren: Sie hatte sich wertvoll, ausgewählt, geliebt gefühlt .
    Véronique betrachtete das kleine Porträt ihrer Mutter. Sie hatte die Form ihres Gesichts aus dem Gedächtnis gezeichnet. So zeichnete und malte sie alles. Das war eine weitere Gabe, die ihr der große Geber aller Gaben geschenkt hatte, wie ihre Mutter es formuliert hatte. Die Fähigkeit, sich etwas, das sie einmal sah, bis ins winzigste Detail zu merken. Die Bilder tief in ihrem Gedächtnis aufzubewahren, wo sie geschützt und unversehrt blieben, wie in einer Truhe eingeschlossen, um zu einem späteren Zeitpunkt herausgenommen und gemalt oder gezeichnet zu werden.
    Wenigstens war das früher so gewesen. Aber sie hatte seit Monaten, seit ihre Mutter krank geworden war, keinen Pinsel mehr in die Hand genommen.
    Jedoch konnte sie das nicht allein auf die Krankheit ihrer Mutter schieben. Die nicht gerade schmeichelhafte Kritik eines angesehenen Lehrers an ihrer Arbeit hatte auch sehr dazu beigetragen. Sie war im Musée du Louvre gewesen und hatte zusammen mit anderen Schülern Porträts der großen Meister nachgemalt. Die Kritik des Lehrers war sehr schmerzhaft gewesen. „Sie versuchen nur, uns zu beeindrucken, Mademoiselle Girard, obwohl es Ihnen besser zu Gesicht stünde, in den Grenzen der konventionellen Malkunst zu bleiben. Sie sind hier, um von den Meistern und ihrer Technik zu lernen. Nicht, um uns Ihre Interpretation dieser Meistergemälde zu geben.“
    Seine Worte hatten sie zutiefst getroffen. Obwohl die Kritik nicht neu war und teilweise der Wahrheit entsprach, hatte seine öffentliche Erklärung, dass ihre Arbeit keines Lobes wert sei und dass es ihr an Talent fehle, ihrem Selbstvertrauen den Boden unter den Füßen entzogen.
    Die Blätter an den Bäumen raschelten im Wind.
    Véroniques Blick wanderte über die Lichtstrahlen der Sonne, die auf das Grab fielen und den Marmor strahlend weiß vom braunen Hintergrund der trockenen Sommervegetation abstechen ließen. Soweit sie zurückdenken konnte, gab es tief in ihr einen Ort, der unvollständig blieb, dem etwas
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