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Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten

Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten

Titel: Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
Autoren: Ilona Andrews
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machte sich auf den Heimweg. Ringsum rückte der Wald an den Feldweg heran: Baumriesen flochten ihre düsteren, verschlungenen Extremitäten ineinander, der seit Jahrhunderten wiederkehrende Herbst hatte den Erdboden zwischen den Stämmen aufgeweicht. Blassblaues Zinnkraut hing wie Lametta von den Ästen. Zwielicht kauerte zwischen den Stämmen. Die Kopoubohnenranken, die die Bäume im Broken bedeckten, waren mit der Grenze verschwunden und hatten dem für das Edge typischen Moos Platz gemacht, das sich wie ein Samtvorhang an die Bäume schmiegte und auf dünnen Stängeln winzige Blüten austrieb, die wie umgekippter Frauenschuh aussahen: hell purpurrot, minzgrün, lavendelfarben, rosa. Der Duft von einem Dutzend Kräutern mischte sich mit dem erdigen, leicht bitteren Aroma der Luft.
    Die dunstigen Tiefen des Waldes entließen unheimliche Geräusche, dann und wann leuchtete im Blätterdach ein Paar brennender Augen auf. Rose achtete kaum darauf. Der Wald war der Wald, und was hier lebte, kannte sie größtenteils und ließ sie unbehelligt ihrer Wege ziehen.
    Zwei Meilen trennten sie noch von der Abzweigung zum Haus, und Rose fiel in ihren gewohnten, angenehmen Marschrhythmus. Bis sie an die dritte Wegbiegung kam, wo sie stehen blieb. Hier war die Stelle, an der der Mann mit den beiden Schwertern auf ihren Truck gesprungen war.
    Rose begutachtete die Dreckspuren. Das war eine echte Glanzleistung gewesen. Soweit sie wusste, reichte ihr die Motorhaube des Trucks ein Stückchen über die Taille. Sie wippte versuchsweise auf den Zehenspitzen und sprang dann so hoch, wie sie konnte. Sie kam nicht mal annähernd hoch genug. Mit Anlauf würde sie vielleicht mit einem Fuß auf die Motorhaube gelangen. Aber der Mann war auf den fahrenden Wagen gesprungen, mit beiden Füßen aufgekommen und anschließend weitergelaufen, als sei nichts gewesen.
    Ein leises, schrilles Geräusch von oben ließ sie den Kopf heben. Links neben ihr streckte ein hoher, zur Straße geneigter Baum seine Äste über den Weg. Nicht ganz drei Meter über dem Boden, dicht unterhalb der Stelle, an der der Baumstamm sich gabelte, umschlang eine schmächtige Gestalt die Borke: Kenny Jo Ogletree.
    Kenny stand auf der Liste ihrer Lieblingsmenschen ziemlich weit unten, nur eine Stufe über seiner Mutter Leanne, die auf der Highschool Sarah Waltons Busenfreundin gewesen war und deren Bestleistung darin bestanden hatte, mit einem Permanent Marker HURESCHLAMPE auf Rose’ Spind zu kritzeln. Orthografie gehörte nicht gerade zu Leannes Stärken, dafür hatte sie das Drangsalieren anderer zu einer Kunstform erhoben.
    Und der Apfel fiel nicht weit vom Stamm – daher galt Kenny schon mit neun Jahren als Leuteschinder und Großmaul. Vor etwa einem Monat hatten sich Georgie und er wegen eines Softballspiels in die Haare gekriegt und sich gegenseitig die Meinung gesagt. Wäre Jack nicht dazwischengegangen, hätte Kenny Georgie blutig geschlagen, aber vor Jack hatten alle Kinder Manschetten. Jack prügelte sich, als wäre jede Prügelei seine letzte, und manchmal hörte er nicht mal dann auf, wenn er längst gewonnen hatte.
    Kenny klammerte sich an den Baum und verhielt sich vollkommen still. Seine Knöchel traten vor Verzweiflung weiß hervor. Sein Hemd und die fadenscheinigen Kakishorts waren fleckig vom Schmutz, und aus einem langen Kratzer am Oberschenkel tropfte Blut auf seine Wade. Kenny starrte sie an, die Augen glasig, das Weiße darin matt glänzend. Sämtliche Probleme mit Leanne verblassten angesichts eines neun Jahre alten Jungen, den seine Angst fast um den Verstand brachte.
    »Bist du okay, Kenny?«
    Er starrte sie nur weiter an.
    In den Sträuchern links von ihr raschelte es zielstrebig, tierhaft. Rose wich langsam zurück.
    Ein Zittern durchlief das dünne Geäst. Die Zweige bogen sich, dunkle, dreieckige Blätter teilten sich, und ein Geschöpf trat auf die Straße hinaus. Ein Meter zwanzig hoch, stand es aufrecht da, sein Körper ein Durcheinander aus verrottendem, fauligem Gewebe, das sich zu einem grotesken Flickenteppich klumpte. Am linken Bein erkannte Rose die Schuppen einer Waldschlange, rötliches Fuchsfell an der Schulter, an der Brust den mattgrauen Flaum eines Eichhörnchens, am Unterbauch die braunen Streifen eines Wildschweins … Der Bauch war stellenweise aufgerissen, und durch die Löcher lugten unmittelbar unter einem schmalen Rippenbogen verwesende Eingeweide.
    Das Gesicht der reinste Horror: Aus tiefen Höhlen glotzten sie fahle,
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