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Lamento

Titel: Lamento
Autoren: Maggie Stiefvater
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Ich glaube, Lukes Kommentar ließ mich auf irgendeinen Punkt zwischen »ziemlich scheißkalt« und »akute Frostbeulengefahr« abfallen.
    Luke warf mir ein seltsames Lächeln zu. »Sei nicht zornig, hübsches Mädchen. Ich meinte nur, dass du wirklich ein nettes kleines Zwischenspiel einschreiben könntest, das ganz allein von dir ist. Improvisier doch ein bisschen, sei spontan. Du hast das Talent, du bemühst dich nur nicht genug.«
    Ich brauchte einen Moment, um zu erkennen, welche Aussagesich hinter seinen charmanten Worten verbarg. »Ich habe ein paar Lieder selbst geschrieben«, räumte ich ein. »Aber dafür brauche ich eine ganze Weile. Wochen. Na ja, jedenfalls Tage. Vielleicht könnte ich etwas davon hier einarbeiten.«
    Er rutschte näher heran und hob die Flöte. »Das meine ich nicht. Komponiere
jetzt
etwas.«
    »Das kann ich nicht. Es würde nichts Anständiges dabei herauskommen.«
    Luke wandte den Blick ab. »Das sagen alle.«
    Plötzlich hatte ich ein merkwürdiges Gefühl, als hinge von diesem Augenblick eine Menge ab – davon, ob ich aufgab oder es versuchte. Ich war nicht sicher,
was
davon abhängen sollte, sondern wusste nur, dass ich ihn nicht enttäuschen wollte. »Dann spiel das Lied mit mir zusammen. Hilf mir dabei, mir etwas einfallen zu lassen. Ich werde es versuchen.«
    Ohne sich mir wieder zuzuwenden, setzte er die Flöte an die Lippen und spielte die ersten Töne. Einen halben Takt später stimmte ich mit der Harfe ein. Beim ersten Durchgang fanden meine Finger automatisch dieselben Noten wie vorher, weil ich sie monatelang eingeübt hatte. Genau wie ich seit einer halben Stunde automatisch Luke in all seiner Seltsamkeit hinnahm und dem Drehbuch folgte, wie es für mich geschrieben worden war.
    Beim zweiten Durchgang hingegen zupften meine Finger eine kleine Variation. Nicht nur ein paar Noten. Das war mehr – die Entscheidung, selbst die Kontrolle zu übernehmen und das Lied zu meinem eigenen zu machen. Ausnahmsweise gab ich selbst den Ton an, und das war ein unglaubliches Gefühl. Kein Hinterfragen. Keine Unsicherheit.
    Beim dritten Durchgang hielt Luke nach dem ersten Vers inne, während ich meiner Harfe acht vollkommen neu erschaffene Takte entlockte.
    Luke lächelte.
    »Überheblich grinsen gehört sich nicht«, tadelte ich ihn.
    »Vollkommen richtig«, stimmte er zu.
    Nachdenklich biss ich mir auf die Lippe. Ich befand mich auf völlig fremdem Terrain, kannte keine einzige der Regeln, die hier galten. »Wenn … wie wäre es … würdest du heute Nachmittag mit mir spielen? Wenn ich mich vom Solo zum Duett ummelde?«
    »Ja.«
    »Dann kümmere ich mich gleich darum.« Ich stand auf, doch er hielt mich zurück.
    »Sie wissen schon Bescheid«, sagte Luke sanft. »Willst du noch ein bisschen üben?«
    Offenbar hielt ich hier nicht die Fäden in der Hand. Langsam setzte ich mich wieder und sah ihn verwundert an. Ich spürte ein Kribbeln in mir, entweder eine Warnung oder ein Versprechen. Ich hatte eine Wahl – die Macht, zu entscheiden, was es war. In einer zahmen Welt wäre es eine Warnung gewesen.
    Ich nickte entschieden. »Ja. Üben wir.«
    »Dee, da bist du ja.«
    Verwirrt drehte ich mich um und sah James hinter mir stehen. Ich brauchte einen Moment, mich daran zu erinnern, wann ich zuletzt mit ihm gesprochen hatte. »Ich habe mich schon übergeben.«
    »Schöner Kilt«, bemerkte Luke.
    James warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Habe ich dich nicht schon mal irgendwo gesehen?«
    »Auf dem Parkplatz«, entgegnete Luke. »Vor der Musikalienhandlung.«
    Merkwürdigerweise hatte ich Mühe, mir Luke irgendwo anders vorzustellen, an einem ganz gewöhnlichen Ort, dochJames schien ihm zu glauben. »Ach ja, richtig. Wo ist der Geiger, mit dem du gespielt hast?«
    »Er musste nach Hause.«
    Ich hatte das seltsame Gefühl, dass die beiden irgendetwas unausgesprochen ließen, und nahm mir vor, James später danach zu fragen.
    »Bist du bald dran?«, erkundigte ich mich stattdessen.
    »Sie sind gerade mit dem
a capella
fertig oder wie das heißt, und fangen jetzt mit den Duetten an. Jason Byler – du erinnerst dich bestimmt an ihn – und ich haben beschlossen, es mit dem Dudelsack und seiner E-Gitarre zu versuchen. Mal sehen, ob wir die Leute ein bisschen provozieren können. Ja, ich bin bald dran. Ich muss ihn suchen gehen. Aber ich passe auf, wann du aufgerufen wirst.« James starrte Luke immer noch an, als hätte er ein Exemplar einer sehr seltenen Pflanze vor sich.
    »Viel
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