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Lamento

Titel: Lamento
Autoren: Maggie Stiefvater
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sich?«
    Ich dachte kurz über die Frage nach. »Ehrlich gesagt, nicht so schlecht, wie ich erwartet hatte.«
    Mr. Hills Augen lächelten hinter seiner Nickelbrille. »Wunderbar. Ich wollte Ihnen viel Glück wünschen. Nicht, dass Sie es brauchen würden, natürlich. Denken Sie nur daran, die hohen Töne beim Singen nicht zu quetschen.«
    Ich erwiderte sein Lächeln. »Danke. Ach ja, ich spiele bei den Duetten. Wussten Sie das?«
    Mr. Hill sah Luke an, und sein Lächeln erlosch. »Kenne ich Sie?«
    »Niemand kennt mich«, antwortete Luke.
    Ich sah ihn an.
Ich werde dich kennenlernen.
    »Deirdre? Lucas? Sie sind dran.« Die Klemmbrettfrau nahm mich energisch beim Ellbogen und drehte mich in Richtung Bühne herum. »Viel Glück.«
    Gemeinsam traten wir ins viel zu helle Licht der Bühne, das Lukes Haar geradezu weiß wirken ließ. Ich hielt Ausschau nach meiner Familie, aber der Zuschauerraum war dunkel. Bestimmt war es besser so, denn auf diese Weise würde ich Delias ewig selbstzufriedenes Gesicht nicht sehen müssen. Ich warf einen letzten Blick auf die schattenhaften Gesichter, bevor ich mich auf den Klappstuhl setzte, dessen Sitzfläche unangenehm warm vom letzten nervösen Teilnehmer war.
    Luke stellte die Harfe vor mich hin und ging hinter mir herum zur anderen Seite. »Nicht gewöhnlich sein«, flüsterte er.
    Mir lief ein leichter, aber gar nicht unangenehmer Schauer über den Rücken, und ich zog meine Harfe an mich. Irgendetwassagte mir, dass »gewöhnlich« unmöglich war, wenn Luke die Finger im Spiel hatte, und dieser Gedanke war aufregender und erschreckender als alles, was dieser Wettbewerb zu bieten hatte.
    »Deirdre Monaghan und Luke DeLong mit Hakenharfe und Querflöte.«
    Ich beugte mich zu Luke hinüber. »Die sprechen alle deinen Namen falsch aus.«
    Lukes Zähne blitzten hinter einem dünnen Lächeln auf. »Das tun alle.«
    »Ich nicht, oder?«
    Das Scheinwerferlicht spiegelte sich in seinen Augen wie in einem schimmernden See. Ich war wie geblendet. »Nein, du nicht.«
    Er rückte das Mikrofon zurecht und wandte sich an die Zuschauer, wobei er den Blick über die Gesichter schweifen ließ, als erwarte er, jemanden zu sehen, den er kannte. »Findet ihr es spannend hier, Leute?«
    Hier und da wurde schwach geklatscht, und ein paar der lauteren Väter riefen etwas.
    »Ihr klingt aber nicht gespannt. Das hier ist das größte musikalische Ereignis für Schüler im Umkreis von tausend Kilometern. Wir spielen hier um große Preise. Es sind eure Kinder und ihre gleichaltrigen Freunde, die sich hier das Herz aus dem Leib spielen, Leute! Also, seid ihr jetzt gespannt oder nicht?«
    Das Publikum klatschte und johlte schon wesentlich lauter. Luke lächelte verwegen. »Also, Dee und ich werden ein altes irisches Lied mit dem Titel ›The Faerie Girl’s Lament‹ spielen. Ich hoffe, es gefällt euch. Lasst es uns wissen!«
    Das war der Moment, in dem ich mich normalerweise übergeben oder in Ohnmacht fallen würde, doch mir war nach keinem von beiden zumute. Nein, mir war eher danach, so breit zugrinsen wie Luke und allen zu zeigen, was eine Musikstreberin auf dem Kasten hatte. So gut hatte ich mich noch nie gefühlt. Wo war die echte Deirdre hinverschwunden?, fragte ich mich. Denn ich wollte sie wirklich nicht zurückhaben.
    »Bereit, Dee?«, fragte Luke leise.
    Sein Lächeln war ansteckend, und zum ersten Mal in meinem Leben fühlte es sich richtig an, auf einer Bühne zu stehen. Ich grinste ihn an und begann zu spielen. Die Saiten waren immer noch butterweich von der Hitze draußen, und die Akustik der Bühne ließ die Harfe klingen, als sei sie sechs Meter hoch. Luke fiel ein, und die Flöte klang leise und rauchig wie seine Singstimme, mit viel Ausdruck und kaum verhohlenem Gefühl. Zusammen klangen sie wie ein ganzes Orchester, wenn auch ein uraltes, ungezähmtes, und als ich zu singen begann, wurde das Publikum so still wie eine Winternacht.
    Hatte ich wirklich eine Stimme wie ein Engel? Die Stimme, die nun den Saal erfüllte, hörte sich jedenfalls nicht an wie meine – sie klang erwachsen, komplex und so kummervoll wie die der Feenmaid in meinem Lied.
    Der erste Vers ging zu Ende, und ich
spürte
, wie die Flöte einen kaum merklichen Herzschlag lang zögerte, abwartete. Ich begann eine zweite Stimme zu spielen, etwas, das man noch nie gehört hatte. Aber diesmal hatte ich sie schon zuvor gespielt und
wusste
, dass ich von der eigentlichen Melodie abschweifen konnte, ohne verlorenzugehen. Diesmal
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