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Kurschattenerbe

Kurschattenerbe

Titel: Kurschattenerbe
Autoren: Sigrid Neureiter
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inne, um sich zu orientieren. An dem Tosen vor ihr erkannte sie die Gilfklamm. Sie musste die entgegengesetzte Richtung nehmen, um zur Promenade zu gelangen. Jenny riskierte einen Blick zurück und sah eine Gestalt auf sich zukommen. Ihr Verfolger!
    Er versperrte ihr den Fluchtweg zur Promenade. Jenny drehte sich um und rannte in Richtung Gilfklamm. Irgendwo am Weg gab es eine Abzweigung. Wenn sie diesen Weg fand, war sie vorerst gerettet.
    Jenny hastete weiter. Ihr Vorsprung wäre schnell verspielt, wenn sie sich im Weg irrte. Wieder blieb sie kurz stehen, um zu lauschen. Er lief nicht, kam einfach mit festen, zügigen Schritten näher und näher. Da, die Abzweigung. Jenny nahm die Stufen in Windeseile. Einmal drohte sie, mit ihren glatten Sohlen auszugleiten. Rasch fing sie sich wieder am Geländer. Weiter, wieder Stufen, gleich hatte sie es geschafft.
    Im nächsten Moment blieb Jenny wie angewurzelt stehen. Das war nicht der Weg zur Strecke, auf der sie zurück nach Meran gelangte. Die Stufen führten zur Aussichtsterrasse, die sich hoch über der Gilfklamm befand. Von dort gab es nur einen Weg zurück: Den, auf dem man gekommen war. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Es sei denn, man hatte die Absicht, sich todesmutig in die Fluten zu stürzen.
    Jenny wandte sich um. Sie konnte ihren Verfolger nicht sehen, sie hörte ihn näher kommen. Wenn sie umkehrte, würde sie ihm direkt in die Arme laufen. Sie hatte keine Wahl. Sie musste nach oben zur Aussichtsterrasse. Und hoffen, dass ihr unterwegs ein Gegenstand in die Hände fiel, mit dem sie sich zur Wehr setzen konnte.
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    1 Südtirolerisch: etwas
    2 Südtirolerisch: Volltrottel

NEUNZEHN
    Dreimal hatte Victor heute die Rennstrecke zwischen Gilfklamm und Steinernem Steg mit dem Kanu befahren. Die Wirbel und Stromschnellen hatten wie immer seine ganze Kraft und höchstes Geschick erfordert. Beinahe hätte er das Training für heute eingestellt. Juri hatte ihn angerufen und ihm mitgeteilt, dass etwas schiefgelaufen war. Sein Bruder hatte Sascha aus den Augen verloren, weil sein Rad einen Platten hatte. Tony Perathoner war festgenommen worden.
    Doch inzwischen war das Mädchen wohlbehalten zu seiner Mutter zurückgekehrt und hatte über Juris Missgeschick tunlichst den Mund gehalten. Tony war dank Katerynas Anwalt wieder auf freiem Fuß. Juri hatte seinem Bruder versichert, dass seine Dienste nicht benötigt würden.
    Von seinem Standort oberhalb der Gilfklamm blickte Victor versonnen auf die Gischtkronen, die sich zu seinen Füßen auf dem Wasser ausbreiteten. Ein Blick zum Himmel überzeugte Victor, dass eine weitere Übungsrunde auf keinen Fall schaden konnte. Das Gewitter hatte sich verzogen und der Regen begann nachzulassen. Behutsam ließ er sein Kanu in die Passer gleiten.
    *
    Im Kommissariat in Meran starrte Aldo Klotz auf den Hörer seines Diensttelefons. »Läute endlich, läute.«
    Lautlos gab er dem Apparat immer wieder denselben Befehl. Sie standen im Fall Peter Mitterer kurz vor dem Durchbruch. Dass die Ermordung des Malers und die Entführung des Professors eng miteinander verknüpft waren, sah mittlerweile sogar ein Blinder.
    Schade nur, dass sie Tony Perathoner, diesen windigen Bergsteiger, und Beppo Pircher, dieses Früchtchen von einem Reporter, hatten freilassen müssen. Das war eine Niederlage. Beide Männer wurden beschattet, und Aldo wartete jeden Moment auf Nachricht. Perathoner oder Pircher – einer von beiden würde sie zu dem Bild führen, das nach wie vor nicht wieder aufgetaucht war.
    Aldo lehnte sich in seinem Sessel zurück. Die Vizequästorin war von seiner Idee, die beiden Männer zu beschatten, gar nicht begeistert gewesen. Sie glaubte fest daran, dass der Mörder von Mitterer in Spielerkreisen zu suchen sei. Dabei hatte sie der Präsident der Pferderennbahn schön abblitzen lassen.
    »Wir sind ein Ort für die ganze Familie. Die Menschen der Stadt sollen ihre Freude am Pferderennplatz haben. Spielernaturen haben bei uns nichts verloren. Wenn Herr Mitterer bei uns gewettet hat – ich betone, wenn –, dann nur zu seinem Vergnügen«, hatte er wissen lassen.
    Franca Bertagnoll selbst hatte es Aldo Klotz erzählt, so aufgebracht war sie über die Abfuhr gewesen. Kurz darauf hatte sie einen Hinweis von Mitterers Hausbank bekommen: Vor zwei Jahren sei es so schlecht um den Maler gestanden, dass die Bank kurz davor war, das Bauernhaus zu versteigern, um die Schulden zu begleichen. Plötzlich habe Mitterer eine Summe eingezahlt,
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