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Kultur 04: Ein Geschenk der Kultur

Kultur 04: Ein Geschenk der Kultur

Titel: Kultur 04: Ein Geschenk der Kultur
Autoren: Iain Banks
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Linters Leiche aus der Kühlkammer des New
Yorker Leichenschauhauses an Bord geholt. Ich gab zu bedenken,
daß er auf dem Planeten begraben werden sollte, doch das Schiff
war anderer Meinung. Linters letzte Verfügungen bezüglich
der Entsorgung seiner Überreste waren fünfzehn Jahre zuvor
niedergelegt worden, ganz zu Anfang seiner Zugehörigkeit zum
Kontakt, und sie entsprachen der herkömmlichen Verfahrensweise;
seine Leiche sollte in den Mittelpunkt des nächsten Sterns
befördert werden. Auf diese Weise gewann die Sonne das Gewicht
eines Körpers dazu, dank der Tradition der Kultur, und in einer
Million Jahre würde vielleicht ein kleines bißchen Licht
von Linters Leiche auf den Planeten scheinen, den er geliebt
hatte.
    Die Willkür erhielt ihr Dunkelfeld ein paar Minuten
lang, dann führte sie ein Swing-by-Manöver am Mars durch
(so daß die Möglichkeit bestand, daß sie durch ein
irdisches Teleskop zu sehen war). Inzwischen sammelte sie hastig all
ihre verschiedenen ferngesteuerten Drohnen und Satelliten von den
anderen Planeten in diesem System ein. Sie verharrte bis zum
allerletzten Moment im Echt-Raum (und ermöglichte dadurch,
daß ihre schnell zunehmende Masse bei einem terrestrischen
Schwerkraft-Wellen-Experiment, das tief in einem Bergstollen
durchgeführt wurde, einen Lichtfleck hervorrief), dann schaltete
sie auf volle Kraft, während sie Linters Leiche ins Herz der
Sonne beförderte, saugte ein paar letzte Drohnen von Pluto und
einigen versprengten Kometen ab und schleuderte Lis Diamanten in
Richtung Neptun (wo er sich wahrscheinlich noch immer im Orbit
befindet).
     
    Ich hatte beschlossen, nach meinem Erholungsurlaub die Willkür zu verlassen, doch nachdem ich mich in der
Orbitalsiedlung Svanrayt einige Wochen lang ausgeruht hatte,
überlegte ich es mir anders. Ich hatte zu viele Freunde auf dem
Schiff, und überhaupt erschien es mir von echter Trauer
erfüllt, als es erfuhr, daß ich mich mit der Absicht einer
Veränderung trug. Es überredete mich unter Aufbietung
seines ganzen Charmes zu Bleiben. Aber es verriet mir nie, ob es
Linter und mich in jener Nacht in New York beobachtet hatte.
    Also, glaubte ich nun wirklich, daß ich schuld war, oder
machte ich nur sogar mir selbst etwas vor? Ich weiß es nicht.
Ich wußte es damals nicht, und ich weiß es heute
nicht.
    Es gab eine Schuld, daran erinnere ich mich, aber es war eine sehr
fragwürdige Schuld. Was mich wirklich ärgerte, was ich
immer noch schwer ertragen kann, ist meine damalige Komplizenschaft
– nicht hinsichtlich dessen, was Linter versucht hatte zu tun,
auch nicht im Zusammenhang mit seinem halb-willentlich
herbeigeführten Tod, sondern mit dem allgemeinen Prinzip des
übertragenen Mythos, den diese Leute als Realität
hinnahmen.
    Mir fällt auf, daß wir, obwohl wir gelegentlich
herumnörgeln, weil wir leiden müssen und jammern, daß
wir niemals echte Kunst hervorbringen, und verzweifeln oder
uns allzu krampfhaft um einen Ausgleich bemühen, haben wir
Nachsicht für unseren üblichen Trick, etwas künstlich
herzustellen, über das wir uns grämen können,
während wir uns wirklich selbst danken sollten, daß wir so
leben, wie wir leben. Wir mögen uns für Parasiten halten,
uns beschweren über Überlieferungen, die in maschinellen
Gehirnen entstanden sind, und uns nach ›echten‹
Gefühlen, ›wahren‹ Empfindungen sehnen, aber wir
übersehen das Wichtigste, da wir tatsächlich ein Kunstwerk
schaffen, indem wir uns die Möglichkeit einer derart schlichten
Existenz überhaupt vorstellen können. Wir haben das beste
Los erwischt. Die Alternative wäre etwas wie die Erde, wo die
Leute, so sehr sie auch leiden, bei all dem Schmerz und der
verworrenen Angst, mehr Mist hervorbringen als alles andere;
Schnulzenfilme und Quizsendungen, Klatschzeitungen und
Schundromane.
    Schlimmer noch, es gibt eine Osmose von dem der Phantasie
Entsprungenen zur Wirklichkeit, eine ständige Verseuchung, die
die Wahrheit hinter beidem verzerrt und die aufschlußreichen
Unterscheidungen im Leben selbst verwischt, indem reale Situationen
und Gefühle durch Regeln geordnet werden, die zum
größten Teil auf den verstaubtesten erfundenen Klischees
beruhen, einem vertrauten und allgemein anerkannten Unsinn. Daher
also die Schnulzen und jene, die versuchen, ihr Leben wie eine
Schnulze zu gestalten, während sie daran glauben, daß die
Geschichten wahr sind; daher also die Quizveranstaltungen, bei denen
es darauf ankommt, so engstirnig wie möglich zu
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