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Kultur 04: Ein Geschenk der Kultur

Kultur 04: Ein Geschenk der Kultur

Titel: Kultur 04: Ein Geschenk der Kultur
Autoren: Iain Banks
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Abreise noch einmal zu sehen, dir Bon Voyage zu wünschen. Ich hoffe, du hast nichts
dagegen. Du hast doch nichts dagegen, oder doch? Das Schiff hatte
angedeutet, daß du vielleicht keine Lust hättest zu
kommen, aber du hast doch nichts dagegen, oder?«
    »Nein, ich habe nichts dagegen.«
    »Gut. Gut, ich hätte mir nicht vorstellen
können…« Seine Stimme verebbte. Wir gingen weiter,
jeder in sein eigenes Schweigen versunken, inmitten des
ständigen Hustens und Spuckens und Keuchens der Stadt.
    Ich wollte weg; ich wollte weg aus dieser Stadt und von diesem
Kontinent und von diesem Planeten und aufs Schiff und hinaus aus
diesem System… Aber etwas veranlaßte mich, weiter neben
ihm herzugehen, zu gehen und stehenzubleiben, einen Fuß vor den
anderen zu setzen, kreuz und quer und hinauf und hinunter zu
marschieren, wie eins von vielen gehorsamen Maschinenteilchen,
für die Bewegung konstruiert, funktionsgerecht, ungeachtet aller
Dinge weiterzulaufen, immer weiter zu drücken und zu stampfen,
frierend oder erhitzt oder strauchelnd, aber immer, immer in
Bewegung, hinunter zum Drogenumschlagplatz oder hinauf zum
Geschäftsführer der Firma oder nur als ständiges
bewegliches Ziel unterwegs, beharrlich den Pfad zu verfolgen, den man
kaum zu sehen braucht und der also weiterhin vom Licht angeblinkt
werden konnte, die Gestürzten und Lahmen ringsum umgehend und
die Zertrampelten zurücklassend. Vielleicht hatte er recht, und
jeder von uns hätte mit ihm hierbleiben können, einfach im
Raum der Stadt untertauchen, für immer verschwinden und niemals
mehr eines Gedankens gewürdigt werden, niemals mehr einen
Gedanken hegen, nur noch Befehle und Verordnungen befolgen und alles
tun, was der Ort verlangt, stürzen und niemals aufhören,
niemals einen neuen Halt finden; und unser Wirbeln und Winden und
Schlingern während des Fallens ist genau das, was die Stadt
erwartet, was der Arzt verschrieben hat…
    Linter blieb stehen. Er spähte durch ein Eisengitter in einen
Laden, der Devotionalien, Weihwasserbecken und Bibeln und
Bibelkommentare, Kreuze und Rosenkränze und Krippen und
Krippenfiguren verkaufte. Er betrachtete alles eingehend,
während ich ihn beobachtete. Er nickte zu der
Schaufensterauslage hin. »All das haben wir verloren,
weißt du. Ihr habt es verloren, ihr alle. Diesen Sinn
für das Staunen und die Ehrfuhrt und… die Sünde. Diese
Leute hier wissen, daß es immer noch Dinge gibt, die sie nicht
wissen, Dinge, die immer noch schiefgehen, Dinge, die sie immer noch
falsch machen können. Sie haben noch Hoffnung, weil die
Möglichkeit noch besteht. Ohne die Möglichkeit des
Versagens gibt es keine Hoffnung. Sie haben Hoffnung. Die Kultur hat
Statistiken. Wir – sie, die Kultur, ist ihrer Sache allzu
sicher, sie hat alles organisiert und ihm Griff. Wir haben das Leben
im Leben erstickt, nichts bleibt mehr dem Zufall überlassen.
Wenn man den Zufall des Gelingens oder Nichtgelingens im Leben
ausschaltet, dann ist es kein Leben mehr, verstehst du?« Sein
eingefallenes, finsteres Gesicht sah wütend und enttäuscht
aus.
    »Nein, ich verstehe nicht«, erwiderte ich.
    Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und schüttelte
den Kopf. »Hör mal, laß uns was essen gehen, ja? Ich
habe wirklich Hunger.«
    »Einverstanden. Schlag vor, wohin wir gehen sollen.«
    »Da entlang; dort gibt es etwas ganz Besonderes.« Wir
setzten uns in dieselbe Richtung wie zuvor in Bewegung, kamen zur
Ecke der 48. Straße und bogen dort ab. Ein eisiger Wind wehte
und wirbelte Papier vom Boden auf. »Was ich sagen will, ist
folgendes: Man braucht ein bestimmtes Potential an Schlechtem, sonst
kann man nicht leben…, oder man kann, aber es hat keine Bedeutung. Man kann nicht den Gipfel ohne das Tal haben, kein
Licht ohne Schatten… Es ist nicht so, daß es unbedingt des
Schlechten bedarf, um das Gute zu haben, aber es bedarf der
Möglichkeit für das Schlechte. So lehrt es die Kirche,
weißt du. Das ist die Wahl, die der Mensch hat; er kann sich
aussuchen, ob er gut oder schlecht sein will; Gott zwingt ihn
ebensowenig, schlecht zu sein, wie Er ihn zwingt, gut zu sein. Die
Wahl ist heute ebenso dem Menschen überlassen, wie sie einst
Adam überlassen war. Nur in Gott liegt eine wahre Chance, den
Freien Willen zu begreifen und schätzen zu
können.«
    Er faßte mich am Ellbogen und steuerte mich in eine
Seitengasse. Ein weißes und rotes Schild leuchtete am anderen
Ende. Ich roch Essen.
    »Denk mal darüber nach. Die Kultur gibt uns
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