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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage
Autoren: Anna Katharina Hahn
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Mülltonne. Dabei schämt sie sich und fühlt sich undankbar, denn Frau Posselt war der erste Mensch in der Constantinstraße, dem sie begegnete, als sie vor Jahren mit zwei Umzugskartons und ihrem Tramperrucksack die Hackstraße verlassen hatte und sichvon einem schweigsamen Taxifahrer vor Klaus’ Haustür absetzen ließ. Für Judith blieb die Begegnung mit der alten Dame ähnlich magisch wie die Vertreibung von Schluckauf: ›Häcker, spring über dr Necker, spring über dr Rhei, fall selber dranei‹ oder das Gefühl, für familiäres Unheil verantwortlich zu sein, wenn sie auf dem Heimweg vom Kirchheimer Kindergarten auf eine Ritze im Gehweg trat. Frau Posselt wurde damals durch ihr Erscheinen auf dem Gehweg der Constantinstraße zu einem Maskottchen für Judiths Seelenfrieden in der neuen Wohnung, ein ungewaschener Hauskobold, den man durch Schwätzchen im Treppenhaus und Versucherle vom selbstgebackenen Apfelkuchen gnädig stimmen konnte.
    Klaus war an jenem sonnigen Septembernachmittag erst spät nach Hause gekommen. Er ahnte nicht, daß Judith, die unberührbare Madonnenschönheit mit der schwarzblauen Haartönung und Ohrringen, die bei jeder Kopfbewegung flimmernd zitterten, schon lange auf einem schludrig gepackten Karton vor seinem Wohnhaus saß, mit dem festen Vorsatz, ihre Zahnbürste neben die seine zu stellen, und ihre schmalen Fesseln unter seinen Tisch zu strecken. Sie wartete mit von Tavor verlangsamtem Herzschlag und stoffpuppenschlaffen Gliedern. Dabei stellte sie sich vor, wie das Telefon in der leeren Hackstraße klingelte und klingelte, wie Sören auf den Anrufbeantworter sprechen mußte, anstatt gleich nach dem zweiten Läuten ihr atemloses »Hallo« und seliges »Ach, du bist es« zu vernehmen. Sie sah Sören, wie er in Tübingen auf seiner schwarzen Ledercouch saß, das Kinn ratlos in die Hand gestützt, wie er über die unerreichbare Judith nachdachte und sie auf einmal seinem Leben beigemischt war wie ein Bitterstoff, der jeden Bissen durchtränkte, Tag und Nacht auf der Zunge lag. Sie würde nie mehr zurückrufen, sondern verschwunden bleiben, einfach weg, am anderen Ende der Stadt, geborgen in geschütztem Terrain. Ob sie es ertragen würde, wußte sie nicht. »Ichbenehme mich wie eine Prolobraut, die vor ihrem Schläger ins Frauenhaus flüchtet. Vielleicht läßt er mich ja gar nicht erst rein. Keine Ahnung, ob er überhaupt solo ist. Mit Annett hat er doch öfter rumgemacht. Annett, die Kichererbse. Die wird sich freuen, wenn ich bei ihr anklopfe. Noch eine Frau im Haus von Klaus.« Sie lachte hysterisch über den eigenen Kalauer, der sich in ihrem Kopf festsetzte und dort weiterbabbelte. Sie hätte auf den Extragriff in die blaue Dose verzichten sollen, aber nun war es zu spät. Judith glitt vom Karton auf den Gehweg, die Hauswand im Rükken, so war sie gestützt und mußte sich nicht damit abmühen, Balance zu halten. Auf ihren Knien lag aufgeschlagen ein Band Mörike. Judith las in der milden Herbstsonne, wunderte sich über die Stille und das Vogelgezwitscher, die graffitifreien Hauswände und die lange Reihe sorgfältig renovierter Altbauten, die in schloßähnlicher Würde vor dem blauen Himmel aufgebaut waren. Das Figurengewimmel an den Fassaden machte ihr Vergnügen. Sie betrachtete es wie ein Bilderbuch: sandsteinerne Tierköpfe, milde lächelnde Löwen, Schafe und Wild, Blumengirlanden, nackte Engel und Fratzen. Außer dem kleinen Feinkostladen mit der gestreiften Markise schien es hier weit und breit keine Geschäfte zu geben. Nur selten bog ein Auto um die Ecke, auch wenn die Straße auf beiden Seiten mit teuren Wagen zugeparkt war. Passanten sah sie nicht, eine völlig neue Erfahrung nach der verkehrsreichen Hackstraße, den ständig belebten Bürgersteigen, dem Gewimmel in den Geschäften am Stöckach und dem Quietschen der Straßenbahn. Judith überflog die ›Peregrina‹ und dachte zwischen den immer wieder verschwimmenden Zeilen an Klaus, der bald nach Hause kommen mußte.
    Klaus hatte in der Hackstraße ein knappes Jahr lang unter ihr gewohnt. Er war älter als Judith, ein breitschultriger, gedrungener Mann mit dichten hellen Locken und einem gutmütigen Gesichtsausdruck. Er hatte in Stuttgart Maschinenbau studiert,als Ingenieur für einen großen Autozulieferer in Mannheim gearbeitet und war dann als Assistent an seine alte Uni zurückgegangen. Seine Promotion stand kurz vor dem Abschluß, irgend etwas komplett Unverständliches über Verbrennungsmotoren. Ihm
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