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Kuehles Grab

Titel: Kuehles Grab
Autoren: Lisa Gardner
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das Haar.
    Ich vermisste meine Mutter.
    Dann ging ich in die Küche und kochte eine Suppe.
    Lügen machten süchtig wie eine Droge. Als Nächstes erzählte ich meinem Vater, ich sei in einen Debattierclub eingetreten. Das gab mir die Möglichkeit, ein paar Nachmittage in der Kirche zu verbringen, dem Chor bei den Proben zuzuhören, mit dem Pfarrer zu reden und einfach den stillen Raum auf mich wirken zu lassen.
    Seit ich denken konnte, hatte ich langes, dunkles Haar. Solange ich noch klein war, hatte mir meine Mutter immer Zöpfe geflochten. In meiner Jugend nutzte ich die langen Strähnen als undurchdringlichen Vorhang, hinter dem ich mein Gesicht verbarg. Eines Tages merkte ich, dass mir mein Haar die Sicht auf die Schönheit der Buntglasfenster versperrten, und lief zum Friseur an der Ecke, um es mir abschneiden zu lassen.
    Mein Vater sprach eine ganze Woche nicht mit mir.
    Außerdem wurde mir klar, als ich in meiner Kirche saß und das Kommen und Gehen der Nachbarn beobachtete, dass meine übergroßen Sweatshirts zu trist, meine Jeans zu weit waren. Mir gefiel es, wenn sich Menschen bunt kleideten, wenn die Farben die Aufmerksamkeit auf die Gesichter und ihr Lächeln lenkten. Diese Menschen sahen glücklich aus. Ich hätte wetten können, dass sie keine drei Sekunden zögerten, wenn sie jemand nach ihrem Namen fragte.
    Also kaufte ich mir neue Kleider – für den Debattierclub. Und ich half jeden Montagabend in der Suppenküche mit – ein Schulprojekt, wie ich meinem Vater weismachte. Jeder Schüler müsse eine gewisse Anzahl von Stunden Sozialdienste leisten. Zufällig hatte sich auch ein netter junger Mann freiwillig zur Arbeit in der Armenküche gemeldet. Braunes Haar. Braune Augen. Matt Fisher.
    Matt nahm mich mit ins Kino. Ich weiß nicht mehr, welchen Film wir uns ansahen. Das einzige, was ich wahrnahm, war seine Hand auf meiner Schulter, meine feuchten Handflächen, mein stockender Atem. Nach dem Kino aßen wir ein Eis. Es regnete. Er hielt mir seinen Mantel über den Kopf.
    Dann gab er mir unter dem nach Cologne duftenden Mantel meinen ersten Kuss.
    Ich schwebte nach Hause, die Arme um meine Taille geschlungen, ein verträumtes Lächeln im Gesicht.
    Mein Vater begrüßte mich an der Wohnungstür. Fünf Koffer standen hinter ihm.
    »Ich weiß, was du getan hast!«, eröffnete er mir.
    »Leise.« Ich legte den Finger auf seine Lippen.
    Ich tänzelte an meinem Vater vorbei in mein winziges, fensterloses Zimmer. In den nächsten acht Stunden lag ich auf dem Bett und war einfach nur glücklich.
    Noch heute denke ich manchmal an Matt Fisher. Ist er inzwischen verheiratet? Hat er Kinder? Erzählt er hin und wieder von dem verrücktesten Mädchen, das er jemals kennengelernt hat? Das er einmal geküsst und dann nie wiedergesehen hat?
    Mein Vater war schon weg, als ich am Morgen aufstand. Er kam gegen zwölf Uhr zurück und drückte mir den falschen Ausweis in die Hand.
    »Ich will keine Beschwerden wegen der Namen hören«, sagte er, als ich mit hochgezogenen Augenbrauen las, dass ich ab jetzt Tanya Nelson, Tochter von Michael Nelson, war. »So kurzfristig Papiere zu besorgen hat mich zweitausend Dollar gekostet.«
    »Aber du hast die Namen ausgesucht.«
    »Der Typ hatte keine anderen zur Verfügung.«
    »Trotzdem bist du mit den Namen nach Hause gekommen«, insistierte ich.
    »Ja, ist schon gut.«
    Er hatte bereits einen Koffer in jeder Hand. Ich stand mit verschränkten Armen und unnachgiebiger Miene vor ihm. »Du hast dich für diese Namen entschieden, ich suche die Stadt aus.«
    »Sobald wir im Wagen sitzen.«
    »Boston«, sagte ich.
    Er riss die Augen auf – es war kaum zu übersehen, dass er sich gegen meine Entscheidung wehren wollte. Aber Regeln sind Regeln.
    Eine Familie ist ein System.
    Wenn man ein Leben lang vor dem Bösen davonläuft, fragt man sich unwillkürlich, wie es wohl sein wird, wenn es einen schließlich doch erwischt. Mein Vater sollte das nie erfahren.
    Die Cops sagten, er sei vom Bordstein getreten und das herbeirasende Taxi habe ihn sofort getötet. Er wurde sechs Meter durch die Luft geschleudert und prallte mit der Stirn gegen einen Laternenpfahl, der sein Gesicht zertrümmerte.
    Ich war zweiundzwanzig. Endlich hatte ich dieses ständige Umherziehen von einer Schule in die andere hinter mir. Ich arbeitete bei Starbucks, joggte viel, sparte Geld für eine Nähmaschine, gründete mein eigenes kleines Unternehmen für Fensterdekorationen und Sofakissen.
    Es gefiel mir in Boston. In
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