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Kuehler Grund

Titel: Kuehler Grund
Autoren: Stephen Booth
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nach verebbte das Knattern, von den Bäumen und dem bergigen Gelände zu einem dumpfen Brummen abgemildert. Nun machten sich die leisen Geräusche des Abends bemerkbar – das Rascheln einer Brise in den Buchen, das Muhen einer Kuh im Tal, das Lied einer Lerche über dem Heidekraut . Harry lauschte, als hörte er eine Stimme, die niemand sonst vernehmen konnte. Sie verstärkte die Trauer in seinen Augen, aber auch seine Entschlossenheit. Er straffte den Rücken und ballte die Fäuste. Sein Griff um die abgewetzte schwarze Lederschlaufe, die er in der einen Hand hielt, wurde fester.
    »Komm zurück und rede mit uns. Bitte, Granddad«, sagte Helen.
    Sie hatte die Stimme nie gehört. Sie hatte es oft versucht, wenn sie beobachtete, wie sich der Gesichtsausdruck ihres Großvaters veränderte, aber nicht zu fragen gewagt, was er vernahm. Stattdessen hatte sie selbst die Ohren gespitzt, um vielleicht wenigstens ein schwaches Echo zu erhaschen. Wie die meisten Männer, die unter Tage gearbeitet hatten, verbrachte auch Harry so viel Zeit wie möglich an der frischen Luft. Wenn sie mit ihm zusammen war, konnte Helen die Geräusche des Waldes und des Himmels hören, die winzigen Bewegungen im Gras, die Richtungsänderungen des Windes, das Springen der Fische im Bach. Doch was ihr Großvater hörte, hatte sie nie gehört. Sie war in dem Glauben aufgewachsen, dass diese Stimme nur ein Mann vernehmen konnte.
    »Wenn du schon nicht mit Grandma darüber sprechen willst, warum erzählst du es dann nicht wenigstens mir, Granddad?«
    Langsam schwoll das Knattern wieder an, es kam auf sie zu, während es dem Verlauf der Straße folgte, die sich durch das Tal schlängelte. Es kam immer näher, über die steinigen Hänge der Raven’s Side, um eine schroff hervortretende schwarze Felsennase herum, immer weiter auf das Dorf zu, bis es fast über ihnen war. Das Getöse war so laut, dass jede Verständigung unmöglich war. Ausgerechnet in diesem Moment entschloss Harry sich, etwas zu sagen, trotzig erhob er die Stimme, um sich gegen den Lärm durchzusetzen.
    »Verdammte Radaubrüder«, sagte er.
    Der Hubschrauber stand reglos in der Luft, der blaue Rumpf flirrte im Schatten der Rotorblätter. In der Kabine beugte sich ein Mann nach vorn und starrte auf die Erde. Der Hubschrauber trug die Aufschrift POLIZEI.
    »Sie suchen das vermisste Mädchen«, sagte Helen, der die Worte regelrecht von den Lippen gerissen wurden. »Die Kleine aus der Villa.«
    »Aye, gut. Aber müssen sie deswegen so einen Krach machen?«
    Harry räusperte sich ausgiebig und spuckte den Schleim in das gelbe Jakobskraut neben dem Gartentor.
    Als wäre er beleidigt, wandte sich der Hubschrauber plötzlich vom Dorfrand ab und schwebte auf eine Reihe hoher Nadelbäume zu, die auf dem Grundstück eines großen weißen Hauses wuchsen. Die Klanghöhe veränderte sich, als das Geräusch an dem Gebäude vorbei glitt und über die Dächer und Schornsteine streifte, wie ein Echolot, das einen Tiefseegraben abtastete.
    »Wenigstens wird die Bande da oben auch aufgeweckt.«
    »Granddad …«
    »Mehr gibt es nicht zu sagen. Jedenfalls jetzt nicht.«
    Helen seufzte, bedrängt von Gedanken, die sie nicht ausdrücken, und von Gefühlen, die sie nicht vermitteln konnte.
    »Ich muss weiter, Kind«, sagte er. »Sonst reißt mir Jess noch den Arm aus.«
    Helen schüttelte den Kopf, aber sie ließ ihn los. Wo der Dorn sie gekratzt hatte, lief ein dünner Faden Blut über ihren Arm. Schon halb geronnen glänzte er dunkel auf ihrer hellen Haut. Sie sah ihrem Großvater nach, wie er den Berg hinunterging, in Richtung des Waldes unterhalb der Felsen. Jess, seine schwarze Labradorhündin, lief voraus und zerrte aufgeregt an der Leine, weil sie es kaum erwarten konnte, zum Bach zu kommen, wo sie sich austoben durfte.
    Nein, man kann nicht ewig davonlaufen, dachte Helen. Aber man kann sich verdrücken und ein Stück mit dem Hund spazieren gehen.
     
    Weiter unten am Hang stand Ben Cooper und schwitzte. Der Schweiß rann ihm durch das Brusthaar und legte sich als klebriger Film auf die Bauchmuskeln. Unter den Armen und am Rücken war sein T-Shirt klitschnass, und seine Kopfhaut kribbelte.
    Noch hatte keine Brise den Weg durch die Bäume gefunden, um die stehende Hitze, welche die Nachmittagssonne zurückgelassen hatte, erträglicher zu machen. Jede Lichtung war eine kleine Sonnenfalle, in der sich die Wärme wie in einem Trichter sammelte. Selbst tiefer im Wald war die Luftfeuchtigkeit noch so hoch,
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