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Kryptum

Kryptum

Titel: Kryptum
Autoren: Agustín Sánchez Vidal
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Menschenmassen gesäumten Straßen geleitet werden. Bealfeld sah Presti von einer Seite zur anderen hasten, um sich zum x-ten Mal Gewißheit über alle Sicherheitsvorkehrungen zu verschaffen. Der Kommissar hatte sich zum Hauptportal der Kathedrale durchgekämpft, wo sich der Prozessionszug in einer streng festgelegten Reihenfolge aufstellen sollte. Doch nur wenn man in den ersten beiden Reihen stand, konnte man wirklich etwas sehen. Bealfeld blickte sich um. Von der für die Presse reservierten erhöhten Plattform hätte er einen besseren Überblick. Er beschloß, hinaufzusteigen.
    Wäre er bloß nie auf die Idee gekommen! Neben ihm ging die Starreporterin des bischöflichen Rundfunks in Stellung, bereit, das ganze Ereignis mit dem Mikrophon live zu kommentieren. In seinem Bemühen, Sara von diesem Podium aus irgendwo in der Menge zu erspähen, war Bealfeld ihrem unerbittlichen Geplapper hilflos ausgeliefert. Sehr zu seinem Leidwesen mußte er eine Unmenge an Details über die bunte Truppe aus Trachtenträgern, Laienbruderschaften und Orden mit anhören, »deren farbenprächtige Umhänge sich die Straßen entlangwinden wie eine bunte Schlange«. Genau das waren ihre Worte.
    Plötzlich wurde der Kommissar auf eine Gruppe aufmerksam, die die Reihen der Laienbruderschaften abschloß. Mit ihren Gewändern aus schwarzem Samt und der doppelten |24| Halskrause schienen sie geradewegs einem Gemälde von El Greco entsprungen zu sein. Zudem trugen sie eine Standarte, die nicht eines der konventionellen flachen Kreuze mit vier Armen zeigte, sondern ein kubisches, dreidimensionales Kreuz mit sechs Armen. Bealfelds Überraschung war groß, als er den Großmeister erkannte. Auf seinen Spazierstock gestützt, stand der alte Mann mit dem weißen Bart aufrecht und stolz inmitten seiner Brüder: Juan Antonio Ramírez de Maliaño, der städtische Architekt.
    »Was für eine Bruderschaft ist das?« fragte Bealfeld einen Journalisten neben sich.
    »Die älteste von allen, die
Hermandad de la Nueva Restauración

    In diesem Augenblick fingen die Glocken an zu läuten, und die einzelnen Gruppen begannen sich zu formieren, um den geistlichen Würdenträgern ihre Achtung zu erweisen, sobald sie aus der Kathedrale treten würden. Die Kirchendiener öffneten nun die beiden bronzebeschlagenen Flügel des Hauptportals. Bealfeld schirmte seine Augen mit der Hand ab und ließ sie über die Menschenmassen schweifen. Doch auch jetzt konnte er Sara nirgends entdecken.
    Die Menge empfing erleichtert den kühlen Luftzug, der aus dem düsteren Innern der Kathedrale herausdrang. Nach den gekreuzten Klingen der Bajonette der Ehrengarde begann sich gegen das Halbdunkel des gotischen Kirchenschiffs ein verschwommener, strohgelber Fleck abzuheben, der ganz allmählich und schwankend Gestalt annahm, je mehr er sich aus dem Schatten löste. Bis die Monstranz in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit zu erkennen war. Als sie aus dem Portal getragen wurde, verfingen sich die Strahlen der Vormittagssonne in den unzähligen Kanten der mit Saphiren, Rubinen, Smaragden und Perlen besetzten Monstranz aus purem Gold, die nun wie eine erstarrte, zweieinhalb Meter hohe lodernde Flamme wirkte. Eilfertig stellte sich ein Priester mit einem tragbaren Tabernakel daneben auf, um das Allerheiligste im Notfall sicher verschließen zu können.
    |25| »Vor uns haben wir die größte Monstranz der Welt«, rief die Radiosprecherin neben ihm ins Mikrophon. »Sie ist zu Beginn des 16. Jahrhunderts aus dem Gold gefertigt worden, das die Seefahrer aus der Neuen Welt mitbrachten. Neun Jahre lang hat eine Goldschmiede gebraucht, um sie fertigzustellen, und der Aufbau ist so kompliziert, daß ihr Schöpfer ein ganzes Buch mit Instruktionen verfaßt hat, wie die 3600 Einzelteile und 260 Figuren einzupassen sind, die durch 1500 Schrauben zusammengehalten werden …«
    Sie las immer noch Zahlen von einem Blatt ab, als Bealfeld vom Pressepodium kletterte, um sich zum unmittelbaren Gefolge des Heiligen Vaters durchzuzwängen, der sich soeben in sein von schwarzgekleideten Sicherheitskräften umringtes Papamobil setzte. An seiner Seite schritt Erzbischof Presti, dessen wachsame Augen unter der gerunzelten Stirn unruhig über die Menschen am Straßenrand glitten. Bealfeld quetschte sich zu ihm durch.
    »Wie wollen Sie den Platz evakuieren, falls etwas passieren sollte?«
    Der Nuntius zeigte an einer Straßenkreuzung auf eine Seitenstraße, durch die wie ein Schatten ein Rettungswagen nach dem
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