Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kriegsgebiete

Kriegsgebiete

Titel: Kriegsgebiete
Autoren: Roland Spranger
Vom Netzwerk:
gut vorbereitet.«
    »Was
willst du tun?«, fragte Melanie.
    »Wenn
ich die Gelegenheit habe, töte ich ihn«, antwortete
Daniel.
    »Töten?«
Melanie stieß ein kurzes, hysterisches Lachen aus. »Wenn
ich die Gelegenheit hätte, würde ich dem Wichser bei
lebendigem Leib die Augen auskratzen und die Eier zerfetzen.«
    »Ja«,
sagte Daniel, »besser wir bleiben cool.«
    »Cool
bleiben. Wie stellst du dir das denn vor? Unsere Tochter ist entführt
worden.«
    Daniel
verbesserte sich.
    »Wir
können nur warten.«
    Schon
während er das Wort WARTEN sagte, fand er es unerträglich.
Melanie schluckte.
    »Ich
hab schon eine ganze Nacht gewartet. Du weißt noch nicht, wie
sich Warten wirklich anfühlt.«
    Ihr
Kiefer, ihr ganzer Körper, alles begann zu zittern und sie
weinte wieder. Sie sollte mich weiterschlagen, dachte Daniel. Dann
wäre es irgendwie leichter. Ich bin schuld. Ich bin schuld. Ich
bin schuld. Daniel streichelte ihr übers Haar. Diesmal wehrte
sie sich nicht. Das Streicheln fühlte sich komisch an. Das
Sich-nicht-Wehren ebenfalls. Ich bin schuld. 
    »Ich
hab noch eine blöde Frage. Ist Timo wirklich tot?«
    »Warum
kommst du jetzt damit? Wir durften monatelang nicht darüber
reden.«
    »Also
ist er wirklich tot?«
    »Was
glaubst du, wo deine posttraumatischen Belastungsstörungen
herkommen? Die ganze Scheiße.«
    »Ich
hatte es vergessen.«
    »Vergessen?
Wie lange hast du seine Hauptschlagader abgedrückt? Sie haben
dich von seiner Leiche wegzerren müssen.«
    Daniel
nickte.
    »Okay.
So was wird mir nicht mehr passieren.«
    Zunächst
schluchzte Melanie, dann presste sich ein lang gezogener Schrei aus
ihrem Kehlkopf.
    »Ich
verliere alles. Mein armes Mädchen.«
    Daniel
fasste Melanie mit beiden Händen an den Schultern. Er schüttelte
sie. Nur ganz leicht. Melanie sah ihn an.
    »Ja,
ich bin ein gestörter, durchgeknallter Typ. Aber ich krieg das
auf die Reihe. Ich bin ihr Vater. Die beste Wahl für diesen
Einsatz.«
    Daniel
war selbst erstaunt, wie ruhig er das gesagt hatte.
    »Du
kannst nicht richtig denken.«
    »Aber
ich kann richtig fühlen.«
    Als
Daniel aufs Rad stieg, fühlte er nur Angst. Er wollte keine
Toten mehr sehen. Vor allem keine toten Kinder. Am wenigsten seine
Tochter. Kinder sterben nicht vor den Eltern. Nicht in einem hoch
entwickelten Land. Nicht im Frieden. So sehr wie in diesem Moment
hatte er noch nie gespürt, was Liebe war. Wenn wirklich ein
abgespaltenes Teil seiner Persönlichkeit hinter diesem ganzen
Leiden stecken sollte, dann würde er es in die Hölle
schicken. Dieses scheißverkommene Ich. Er würde keine
Gnade kennen. Mit sich. Oder mit einem anderen.
    Jeder
Tritt in die Pedale machte ihn entschlossener. Okay, seine Seele war
zerbombt, aber seine Muskeln waren trainiert. Und sein Gehirn war
hellwach, bis auf den einen oder anderen Abschnitt vielleicht. Timo
würde er nicht mehr anrufen. Keine Leitungen, keine Synapsen
blockieren. Wann klingelte das verdammte Handy endlich?
    Der
Entführer wollte mit ihm allein sein. Gerne, dachte Daniel. Er
hatte noch nie jemanden töten wollen, auch nicht, als er Soldat
war. Jetzt war es anders.
    Um
sich zu beruhigen, flüsterte er die sieben Tugenden des Samurais
vor sich hin, während seine Beine das Rad antrieben:
    Gi – Die rechte Entscheidung aus der Ruhe des Geistes.
    Yu – Mut, Tapferkeit und Heldentum.
    Jin – Das Mitleid, die Liebe und das Wohlwollen.
    Rei – Die Höflichkeit und das rechte Verhalten.
    Makoto – Die vollkommene Aufrichtigkeit.
    Meiyo – Ruhm und Ehre.
    Chugi – Pflichtbewusstsein, Loyalität und Hingabe.
    Für
Passanten musste es blöd aussehen, wenn ein Radfahrer
Selbstgespräche führte. Es war Daniel egal.
    Ein
wahrer Samurai sollte frei von jeder Angst sein und keinen Grund
haben, krampfhaft am Leben festzuhalten. Für ihn ist es gleich,
ob heute oder morgen sein letzter Tag ist. Seine Bereitschaft zu
töten sollte ebenso gefestigt sein wie seine Bereitschaft,
selbst in den Tod zu gehen.

    ***

    Daniel
klingelte. Keine Reaktion.
    Daniel
klingelte noch mal. Diesmal ließ er den Finger länger auf
dem Klingelknopf. Keine Musik. Wenn Maik zu Hause war, lief immer
Musik. Er wartete eine halbe Minute, bevor er Maiks
AC/DC-Schlüsselanhänger aus der Hosentasche holte. Daniel
ging in die Hocke und versuchte, durch den schmalen Spalt zwischen
dem Türrahmen und der Piratenflagge etwas durch das Glas zu
erkennen. Nur die Tapete im Flur. Vorsichtig steckte er den Schlüssel
ins Schloss. Das Geräusch war zu laut.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher