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Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Titel: Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
Autoren: Hamed Abdel-Samad
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die USA im Mittelpunkt des Geschehens, sondern nur am Rande. Noch am Rande!

    Viele in Europa haben die Erschütterung des arabischen Erdbebens zwar gespürt, aber die Zeichen, die von der anderen Seite des Mittelmeers kommen, noch nicht verstanden und reagieren entweder ängstlich oder gleichgültig. Bis vor wenigen Monaten beklagten wir die Ungleichzeitigkeit und die Asymmetrie, die die Beziehungen zwischen Europa und den arabischen Staaten bestimmt haben. Fast immer waren die Araber langsamer und weniger flexibel im Umgang mit den rasanten Entwicklungen der Welt. Nun erlebten wir, dass die Araber, die wir gern als Globalisierungsverlierer bezeichnet haben, sich der Instrumente der Globalisierung bedienten, um auf die Höhe der Zeit zu kommen. Während manche Europäer auf Facebook Gruppen mit dem Titel »Facebook sucks« einzurichteten, um ihre Bedenken über die Datenschutzlücken im sozialen Netzwerk zum Ausdruck zu bringen oder um ihre Solidarität mit einem ehemaligen Verteidigungsminister kundzutun, umarmten die jungen Araber die westliche Erfindung dankend und jagten mit ihrer Hilfe ihre Diktatoren aus dem Amt. Die jungen Menschen in Ägypten, Tunesien und Syrien betrachteten Facebook als Fenster zur Welt und befreiten sich dadurch vom offiziellen Wissen, das ihnen die herrschenden Eliten durch Schulbücher und staatliche Medien vermittelt haben. Europa reagierte jedoch langsam und verkrampft auf die letzten Erschütterungen, und viele wollten und wollen anscheinend ihre alten Araber wiederhaben, wenn nicht mit Bart, Vorderladerflinte und Kamel, dann gerne mit Bart, Leopard 2 und einem SUV aus deutscher Produktion.
    Der Weg zu den zahlreichen Tahrir-Plätzen in den arabischen Städten war kein Spaziergang für die Frauen und Männer, die gegen die Diktaturen demonstrierten. Sie wurden täglich mit Gummigeschossen, mit Tränengas, aber auch mit scharfer Munition beschossen. Im Jemen, in Syrien und Libyen haben die Machthaber mit Kanonen auf sie gefeuert und Kampfflugzeuge Bomben auf sie werfen lassen. Jeder, der nach Freiheit rief, setzte sein Leben aufs Spiel; jeder wusste, die Schüsse können ihn treffen, und trotzdem nahm mit der Brutalität der Staatsmacht auch die Entschlossenheit der Demonstranten zu, den Diktator zu stürzen. Mut und Ausdauer reichen als Erklärung nicht aus, sondern auch der Durst nach Freiheit und das Gefühl, dass das, wonach man sich immer gesehnt hatte, in greifbarer Nähe scheint, spielen eine Rolle. Diese jungen Frauen und Männer riskierten ihr Leben, nicht um den Märtyrertod zu finden, sondern um freier und besser zu leben. Zum ersten Mal gingen sie auf die Straße, nicht um gegen Phantomfeinde und Sündenböcke, sondern um gegen die wahren Gründe ihrer Misere zu demonstrieren. Nicht Israel, den USA oder dem Mohamed-Karikaturisten galt die Wut der Rebellen, sondern den eigenen Diktaturen. Die demonstrierenden Massen skandierten in diesem Frühling des Jahres 2011 nicht wie bislang so oft »Tod Amerika«, sondern »Gerechtigkeit, Würde und Freiheit«.
    Viele im Westen scheinen in Bezug auf die Umwälzungen in der Welt kein Risiko eingehen zu wollen. Viele an den Frieden gewöhnte, satte Europäer jenseits der 40 schienen es nicht zu begreifen, dass Freiheit kein Nebenprodukt des Wohlstands ist, sondern ein Zustand, den man nur erreichen und vor allem sichern kann, indem man sich immer und immer wieder darum bemüht. Freiheit kann niemals bedeuten, dass alles beim Alten bleibt, sondern vielmehr, dass man es wagen muss, sich gegen alle Formen der Ausgrenzung, der Bevormundung, der Unterdrückung zu wehren, im äußersten Notfall auch, indem man sein Leben riskiert. Wie reagierte Europa auf die Revolutionen in Nordafrika? Überwiegend mit Sorgen und Angst. Und es ist zwar nicht schön, aber verständlich, dass die dringlichste Sorge der Europäer der Erdölversorgung galt, dann den Flüchtlingsströmen, freilich nicht den Flüchtlingen, die zu Hunderten im Mittelmeer ertranken, und schließlich galt die Sorge dem möglichen Aufstieg des Islamismus.
    Aber Angst ist bekanntlich nicht der beste Ratgeber, auch nicht in unruhigen Zeiten. Selbstverständlich bergen die Umbrüche in den arabischen Staaten keine Sicherheit, dass sich dort tatsächlich Demokratie und Freiheit durchsetzen. Ein Erdbeben mag alte Häuser zum Einsturz bringen, garantiert allerdings nicht, dass an ihrer Stelle neue, bessere Häuser entstehen. Aber das Ende der Diktatur ist die Voraussetzung für einen
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