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Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Titel: Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
Autoren: Hamed Abdel-Samad
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staatlichen und gesellschaftlichen Neuaufbau in der arabischen Welt. Blicken wir auf den Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Satelliten, so stellen wir fest, dass Osteuropa nur durch die Beseitigung des kommunistischen Erbes und das Wachsen eines neuen Bewusstseins den schwierigen Weg in die Demokratie antreten konnte. Dies schafften die Osteuropäer nicht nur aus eigener Kraft, sondern auch mit massiver Unterstützung des Westens vor, während und nach dem Umbruch. Heute sind einige ehemals kommunistische Staaten Mitglieder der Europäischen Union und wichtige Motoren des wirtschaftlichen Wachstums auf dem alten Kontinent.
    Nicht geschafft haben den Weg in die Demokratie Staaten wie Weißrussland, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan, die nach dem Ende des Kommunismus in politische Lethargie verfallen sind und kaum neue demokratische Strukturen aufbauen konnten. Bald konnten dort auch die alten Eliten wieder an die Macht kommen, weil das demokratische Bewusstsein in diesen Staaten weder durch Bildung noch durch eine neue, demokratische Wirtschaftspolitik gefördert wurde.
    Die arabische Welt kann viel von der europäischen Erfahrung und dem Transformationsprozess lernen. Dafür müssen die Menschen begreifen, dass der Sturz der Diktatur erst der Anfang eines langen Weges ist. Ein demokratisches Bewusstsein kann nur wachsen, wenn die Diktatur auch in den Köpfen, in den Schulen und in den patriarchalischen Familienstrukturen eliminiert wird. Die Revolution gegen alte Rollenbilder, gegen die unversöhnlichen religiösen Denkmuster ist deshalb sogar noch wichtiger als die Entmachtung der Despoten. Das Machtvakuum darf nicht durch eine neue Form der Bevormundung im Namen der Nation oder der Religion gefüllt werden. In Ländern wie Ägypten, Tunesien, Jordanien und Marokko, wo es eine kurze friedliche Revolution oder eine sanfte Reformbewegung gab, ist es möglich, die neugeborene Zivilgesellschaft zu stärken und demokratische Infrastrukturen aufzubauen. Im Jemen und in Libyen, wo sich die Kämpfe in die Länge gezogen und weite Teile der Bevölkerung militarisiert haben, wird es schwierig, Konflikte plötzlich demokratisch zu lösen. Der viel beschworene Kampf der Kulturen, der zwischen Orient und Okzident ablaufen sollte, findet nun innerhalb der arabischen Welt statt – zwischen den Kräften, die Öffnung und Modernisierung anstreben, und jenen, die für Selbstverherrlichung und archaische Weltbilder stehen.
    Hier in Europa kann man sich nicht so recht von Herzen freuen über die unerwarteten Entwicklungen in Nordafrika und im Vorderen Orient. Es mag daran liegen, dass viele Europäer mittlerweile des Themas Islam, der unendlichen Debatten über Migration, Integration und islamistischen Terrorismus, müde geworden sind. Viele Europäer, auch ihre Regierungen, schauen in den Rückspiegel und meinen zu sehen, was die Zukunft bringen wird: Fanatismus, Gewalt und Masseneinwanderung. Niemand kann garantieren, dass dieses Szenario nicht eintreten wird. Es ist in der Tat eine Frage von Krieg oder Frieden. Aber die Konfrontation als die wahrscheinlichste Variante zu sehen, beschleunigt sie und erhöht die Mauer, die ohnehin hoch genug ist. Langfristig kann sich Europa aber weder eine neutrale noch eine skeptische Haltung gegenüber den Entwicklungen jenseits des Mittelmeers leisten. Nur echte, ernstgemeinte Investitionen, nicht bloß Almosen, können Europa vor den Gefahren eines ausufernden Umbruchs in der arabischen Welt schützen und dem alten Kontinent, der so sehr auf Energielieferungen, Absatzmärkte und zunehmend auch auf Arbeitskräfte angewiesen ist, sogar eine neue wirtschaftliche Perspektive bieten.
    Was für die Türkei als zu wenig gilt, kann für Länder wie Ägypten, Marokko und Tunesien die Rettung sein: eine privilegierte Partnerschaft mit der EU . Ein umfassender Marshallplan für Nordafrika muss her. Dies sollte mit der aktiven Mitarbeit europäischer Politiker und Geldinstitutionen beginnen, um die geschmuggelten Milliarden der gestürzten Diktatoren in die jeweiligen Länder zurückzuführen. Die Gelder könnten auch über rasch aufgelegte Beschäftigungsprojekte der arbeitslosen Jugend zugutekommen. Langfristig ist eine europäische Hilfe für den Aufbau demokratischer Strukturen unerlässlich. Die Schulung der Polizei, die Neufassung der Lehrpläne und Schulbücher und die Ausbildung von Technikern und Ingenieuren sind nur einige Beispiele. Mit klugen, frühzeitigen und engagierten
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