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Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Titel: Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
Autoren: Hamed Abdel-Samad
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Huhn. Ich meinte, es sind die Kultur, die Religion und die Familienstrukturen, die den Diktator hervorgebracht haben; mein Freund ging davon aus, dass es die Ungerechtigkeit in der Welt ist, die die Diktaturen begünstigen, und diese vernichten die Bildungssysteme, um eine kritische Mittelschicht zu verhindern, die ihre absolute Macht in Frage stellen könnte. Er meinte, alle modernen Diktaturen seien Produkte des Kalten Krieges, und verwies auf Nordkorea, die DDR und Kuba. Der Unterschied zwischen Nord- und Südkorea und zwischen Ost- und Westdeutschland sei nicht die Mentalität gewesen, denn es handelte sich um das gleiche Volk. Es seien die Strukturen und Interessen der Großmächte, die die eine Hälfte eines Landes in eine Demokratie und die andere Hälfte in eine Diktatur verwandelt hatten. Ich schüttelte den Kopf und meinte, dies sei mir zu einfach, und verwies auf Taiwan, das sich trotz der Brutalität der Japaner während der Besatzung und trotz des Konflikts mit China aus eigener Kraft zur Demokratie entwickelt hatte.

    Und dennoch bin ich an diesem 28. Januar 2011 auf den Straßen Kairos unterwegs, nicht um die Masse über die eigenen Versäumnisse aufzuklären, sondern um mit ihr zu verschmelzen, um gegen den Diktator zu demonstrieren. Mein Freund musste bei seiner Frau und den Kindern bleiben. Dafür ist mein jüngerer Bruder an meiner Seite. Auch er dachte bis vor einigen Jahren nicht im Traum daran, gegen das Regime zu demonstrieren, nicht nur weil er drei Kinder hat, sondern weil er Armeeoffizier war. Er pflegte zu sagen: »Ich bin im Schoß des Staates erzogen worden und darf mich deshalb gegen diesen Staat nicht auflehnen.« Tatsächlich hatte er seit seinem zwölften Lebensjahr eine Militärschule besucht und nach seinem Abschluss in der Telekommunikationsabteilung der Armee gearbeitet, die eng mit dem Geheimdienst kooperierte. Aber dieser Staat, dem mein Bruder immer treu gedient hatte, verstieß ihn, als bekannt wurde, dass sein älterer Bruder, also ich, eine Frau geheiratet hatte, die halb Japanerin, halb Dänin war. Und in Dänemark waren die Mohamed-Karikaturen zuerst erschienen. Das war der einzige Grund, warum mein Bruder seinen Job verlor und aus der Armee entlassen wurde, denn in den Augen des Staates gefährdete meine Ehe seine Loyalität dem Regime gegenüber. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum er sich der Demonstration anschloss. Wie die meisten Väter, die zum Tahrir-Platz drängen, hofft er darauf, dass seine Kinder in einem besseren Ägypten aufwachsen werden.
    Der Tahrir-Platz ist nun in Sichtweite, aber uns trennen mehrere Polizeisperren von ihm. Der zentrale Platz, an dem die wichtigsten Einrichtungen des Staates liegen, ähnelt einer Militärbasis, die von den uniformierten Staatsdienern hermetisch abgeriegelt wird. Unsere Taktik ist zunächst, die Sicherheitskräfte aufzusplittern, indem wir uns in kleine Gruppen aufteilen und in den Gassen des Zentrums hin und her laufen. Bis 15 Uhr sind alle Straßen, die zum Platz führen, voller Demonstranten. Die meisten von ihnen demonstrieren zum ersten Mal und haben weder mit den linken Aktivisten noch mit den islamistischen Muslimbrüdern etwas zu tun. Die Leute rufen: »Das Volk will das Regime stürzen.« In der Tat, es ist das Volk. Ganz Ägypten ist auf den Beinen, Männer und Frauen, Jugendliche und Alte, Arme und Reiche. Die meisten von ihnen sind gut gekleidet und sehen nicht aus, als würden sie gleich verhungern. Hier ist die neue kritische Masse des Landes. Ich könnte jeden von ihnen umarmen!
    Dann wird es plötzlich ungemütlich. Polizisten stürmen uns entgegen und verschießen ununterbrochen Gummigeschosse und Tränengasgranaten. Nicht Dutzende, Hunderte, es scheinen Tausende Granaten zu sein, so dicht ist der Nebel. Später merken wir, dass die Polizei ihren Nachschub an Tränengas mit Ambulanzwagen transportiert. Erst als wir Demonstranten den Trick erkennen und die Ambulanzwagen stoppen, hört der Beschuss kurzfristig auf.
    Bis dahin husten fast alle, haben offenbar eine Rauchvergiftung. Schlägerbanden in Zivil verfolgen uns und schlagen brutal mit Stöcken auf uns ein. Ich rette mich in eine Privatwohnung. Viele Frauen haben in der Umgebung des Platzes kleine private Ambulanzen eingerichtet, in denen Verletzte versorgt werden. Auch ich habe etwas abbekommen, ein Finger scheint gebrochen, er wird geschient. Gegen die Prellungen und meine Rauchvergiftung kann ich nicht viel machen. Es gibt andere
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