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Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Titel: Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
Autoren: Hamed Abdel-Samad
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vorbereitet, wieder mit Hilfe von Facebook. Die tunesischen Protestler haben uns erklärt, was man gegen Tränengas tun kann: eine Flasche Essig, eine Zwiebel, eine Flasche Coca-Cola und ein Halstuch. Mit diesen Utensilien strömen unzählige Frauen und Männer in Richtung Tahrir-Platz. Wenn die Polizei Tränengas abfeuert, sollen wir uns das essiggetränkte Halstuch vor Mund und Nase halten, dann beißt der Qualm nicht so schlimm. Und wenn das nicht reicht, verschärft eine Zwiebel die Wirkung des Essigs. Die Augen soll man sich nie mit Wasser auswaschen, wenn man in den ätzenden Nebel gerät, sondern nur mit Coca-Cola. Ich ahne mittags noch nicht, wie wertvoll diese Tipps am Ende des Tages sein werden.
    Mittels Facebook haben wir uns über die Regeln des Protests verständigt: Wir bleiben friedlich. Wir benutzen keine sektiererischen oder parteipolitischen Parolen oder Plakate. Auch die Oppositionsparteien dürfen ihre Fahnen und Parolen nicht verwenden. »Es ist doch keine Hochzeit auf dem Land, wo jeder Gast nach dem Mikrophon greift, um den Bräutigam persönlich zu begrüßen. Man braucht nur die ägyptische Flagge und die ägyptische Nationalhymne, mehr nicht«, schrieb die Bloggerin Nawara Negm einige Tage vor den Protesten auf ihrem Blog.
    Die Muslimbrüder haben einen Rückzieher am Tag vor der Revolution gemacht und kündigten an, nicht daran teilnehmen zu wollen. Sie scheinen einen Deal mit dem Regime geschlossen zu haben, den Protesten fernzubleiben und dafür Privilegien zu erhalten. Neu ist das nicht. Allerdings sind dann einige von ihnen am Abend des 28. Januar doch dabei, als sie gemerkt haben, dass es sich um eine tatsächliche Revolution handelt. Auch diese Demonstranten dürfen keine religiösen Symbole tragen. Alles soll zivil bleiben. Alles soll demokratisch ablaufen.
    Am Mittag hält sich meine Gruppe einige Zeit in einer Nebenstraße bei meinem Verleger versteckt. Wir warten auf das Ende des Freitagsgebets und hoffen, dass dann viele zum Tahrir-Platz strömen und wir uns der Menge anschließen können. Direkt unter dem Haus hat sich eine Polizeitruppe vor einer schier unüberwindbaren Barrikade aufgestellt. In Kleingruppen wollen wir zum Tahrir-Platz aufbrechen, werden jedoch schon vor der Haustür von den Polizisten aufgehalten und müssen nun in die andere Richtung ausweichen. Bis zu diesem Moment hatte ich keine Ahnung, wie viele wir werden würden. Als ich aber den Talaat-Harb-Platz erreiche, verschlägt es mir die Sprache. Hier sind nicht Hunderte wie früher, auch nicht Tausende. Ganz Kairo scheint auf den Beinen. Wir sind zu Hunderttausenden! »So viele Polizisten gibt es in ganz Ägypten nicht, um uns aufzuhalten«, sagt eine junge Demonstrantin, die heftig mit einem Polizisten debattiert und sich über die Barrikaden aufregt.

    Auch Ende Januar 2010, genau ein Jahr vor dem Ausbruch der Revolution, war ich in Kairo zu Besuch. Mit dem gleichen Freund, der mir übrigens auch die Seite von Khalid Said empfohlen hat, verfolgte ich in einem Kairoer Café nahe dem Tahrir-Platz das Finale der Afrikameisterschaft im Fußball, in dem Ägypten gegen Ghana gewann. Nach dem Spiel strömten Millionen von jungen Ägyptern auf die Straßen und jubelten bis in den Morgen. Alle gesellschaftlichen Regeln schienen für eine Nacht aufgehoben. Frauen durften nicht nur allein über Nacht wegbleiben, sondern tanzten auf offener Straße. Manche von ihnen nahmen sogar ihre Kopftücher ab und schwenkten sie. Man sah in ihren Augen den Wunsch nach Freiheit und die Sehnsucht danach, Teil von etwas Schönem zu sein. Ich sah die glücklichen Gesichter der jungen Menschen und dachte, diejenigen, die die Pyramiden gebaut haben, müssen auch enthusiastische Ägypter gewesen sein, so wie diese, die ihr Land lieben. Dann fragte ich mich, was schiefgelaufen war? Warum gingen sie auf die Straße, um zu jubeln, aber nicht, um für ihre Rechte zu kämpfen?
    Mein Freund meinte, diese Massen kennen jetzt den Weg zur Straße und es sei eine gute Übung für den Tag X. Ich nannte ihn einen Phantasten. Überhaupt hielt ich die Diktatur nicht für das größte Leiden der Ägypter, sondern für das Symptom einer Erkrankung, die tief in der Mentalität wurzelt. Ist es wirklich nur die Diktatur des Systems, die ihnen im Wege steht, oder liegt es womöglich an der dicken Lehmschicht, die ihre Wahrnehmung und ihren Verstand umhüllt? Lange diskutierte ich an diesem Tag mit meinem Freund darüber, ob das Ei zuerst da war oder das
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