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Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport

Titel: Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport
Autoren: Renate Hartwig
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daran, noch zuzuwarten. Die Schmerzsituation verbessere sich vielleicht von allein.
    Ein Lichtblick. Debbys trostloser Blick klärt sich etwas auf. Hat sich ihr Kampf gelohnt, wenigstens eine geprüfte Diagnose ihrer Verletzung zu erhalten? Der Chirurg eröffnet ihr noch, dass dieser Klinik für eine MR -Angiographie – es wird ein Kontrastmittel gespritzt – die Ausstattung fehlt. Warum sie dann hierhergeschickt wurde, kann ihr niemand sagen. Der Orthopäde versichert, ihr würde ein MRA -Termin telefonisch mitgeteilt. Sie humpelt in den Gang, zum Informationstresen. Ob man ihr einen Rollstuhl besorgen kann? Leere Stühle hinter der Theke. Keiner da. Ein Klingelknopf fehlt. Der Gelenkschmerz und die bittere Enttäuschung über das nicht enden wollende Hin und Her, ohne medizinisch nur einen Millimeter voranzukommen, setzen ihr zu. Da, ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes schlendert den langen Flur entlang, kommt auf sie zu. Nein, einen Rollstuhl könne er ihr nicht besorgen. Das gehöre nicht zu seinen Aufgaben. Vorsichtig rutscht sie im hallenartigen Gang des Krankenhauses an der Lehne auf die Sitzfläche eines Stuhles hinunter und lässt den Tränen freien Lauf. Patienten, Klinikmitarbeiter – niemand nimmt Notiz von ihr.
    Das Telefon zu Hause empfängt eine Woche lang keinen Anruf aus dem Gesundheitsbereich. Debby reißt der Geduldsfaden. Eine Stunde und zehn Gespräche später weiß sie, dass zwei Wochen vergehen, bis der zuständige Klinikmitarbeiter Zeit hat, eine MR -Angiographie anzufertigen. Am Montag vergebe er den Termin. Sie erhalte einen Anruf.
    Das MRA bestätigt schließlich die frühe Diagnose des Chiropraktikers. Ein Physiotherapeut hilft ihr immer wieder. Er zeigt auf, wie sie sich bewegen muss, um die Umgebung der gerissenen Gelenklippe nicht zu reizen. Zwei Sitzungen übernimmt die Versicherung. Die Entzündung geht langsam zurück, die Schmerzen nehmen ab. Doch gesund, belastbar wie zuvor, ist Debby nicht. Inzwischen verfügt sie über sämtliche Kopien ihrer Krankenakte. Aus ihnen geht hervor, dass der Chirurg geraten hat, die diagnostizierte Fehlstellung des Hüftgelenks durch einen minimalinvasiven Eingriff zu korrigieren. Als sie diese Empfehlung entdeckt, will sie nachbohren, warum er sich nicht durchgesetzt hat. Doch der Arzt ist nicht mehr für Kaiser Permanente tätig; der Orthopäde schon.
    Drei Jahre später, im April 2008, kehren Debbys massive Schmerzen im Hüftgelenk zurück. In einem Fitnesskurs hat sie der Trainer überredet, nicht vor starken Dehnübungen und tiefen Hocken zu kneifen. »Du machst sie nur falsch«, posaunt er in die Runde der Teilnehmer. Der Gruppenzwang besiegt die Vorsicht. Auf einer langen Wanderung in den Bergen strapaziert sie das Gelenk zusätzlich. Der nächste Tanzkurs und das frühere Schmerzgeschehen ergreifen wieder erbarmungslos Besitz von ihrem Körper.
    Diesmal gelingt er ihr relativ rasch, einen auf den Bewegungsapparat spezialisierten Chirurgen zu konsultieren. Eine Stunde Fahrtzeit zur dritten Kaiser-Permanente-Einrichtung nimmt sie in Kauf. Wieder röntgen und eine neue Diagnose: Der Schenkelhals hat sich verdickt, klemmt die Hüfte ein. Obwohl sich KP rühmt, mit der elektronischen Krankenakte alle für die Behandler vorhandenen Daten eines Patienten sofort bereitzustellen, kennt der Chirurg weder Debbys Vorgeschichte noch die MRA -Aufnahmen. Gerade drei Jahre zurückliegende Daten kann er nicht abrufen. Die Vorgänge sind nur wenige Wochen älter, aber aus der Datenbank getilgt. »Was würde das bringen?« Der Doktor ist kurz angebunden, als Debby ihn darum bittet, die Unterlagen anzufordern. Seine Therapie steht fest: eine Cortison-Spritze und Physiotherapie. Die Gabe des Entzündungshemmers soll die Schmerzen lindern. Debby schont das Hüftgelenk aber auch. Sie hört in sich hinein. Nach zwei Tagen spürt sie die Linderung, kann jedoch nicht unterscheiden, was mehr geholfen hat: das Medikament oder ihre Vorsicht. Die Physiotherapeutin erklärt der Patientin, dass krankengymnastische Übungen an ihrem Krankheitsbild, also der Ursache ihrer Probleme, nichts ändern. Und die Röntgenbilder zeigen keine Auffälligkeiten – wie schon drei Jahre zuvor. Einen operativen Eingriff lehnt der dritte KP -Arzt dennoch ab, obwohl er das Mittel der Wahl darstellt. Abwarten lautet seine Devise. Operationen kosten viel Geld.
    Debbys Bilanz ihrer dreijährigen kafkaesken Medizin-Odysee: »Menschen sind keine Autos. Bei Kaiser werden wir wie ein
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