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Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport

Titel: Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport
Autoren: Renate Hartwig
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stattfindet. Die ausgeklügelten Bedingungen diktiert das Gesundheitsunternehmen. Sein Versprechen, dieses System sei preiswerter und gehe schneller, ist ein Gerücht. Patientenanwälte beklagen seit Jahren, dass es ausschließlich dem Unternehmen nutzt. Es kostet den Kläger mehr als ein Prozess. Es zieht sich in die Länge, weil sich Kläger und Beklagte auf einen neutralen Schiedsrichter oder eine dreiköpfige Jury einigen müssen. Da jede Partei ebenfalls einen Anwalt mitbringt, müssen bereits fünf Juristen ihre Termine abstimmen und entlohnt werden. Auf der Schiedsleuteliste, die Kaiser herausgibt, stehen vornehmlich ihr gewogene Personen. Patienten berichten: Häufig fehlen zumindest Teile der Behandlungsunterlagen, obwohl sie elektronisch gespeichert sind. Jedem Kranken wird daher seit Jahren empfohlen, alle Untersuchungsdaten selbst zu sammeln. KP -Ärzte sagen gegen ihre Kollegen nicht aus.
    Eine Reform dieses Schiedssystems hat kaum Verbesserungen gebracht. Zwar können die Kläger inzwischen Geld sparen, wenn sie auf die Jury verzichten. KP zahlt aber dann den neutralen Dritten allein. Das schafft finanzielle Abhängigkeiten und wiederkehrende Kontakte. Vielfach treffen sich an allen Seiten des Tisches dieselben Aushändler. Statistiken des Bundesstaats Kalifornien über dieses Schiedssystem zeigen, dass Richter, die Klägern hohe Schmerzensgelder zuteilen, von der Schiedsleuteliste verschwinden. Sie gefährden also ein gut dotiertes Zubrot. Der Arzt und Jurist Arlan A. Cohen hält es daher nicht für fair und gerecht. Er zitiert einen der neutralen Schiedsleute, nachdem er sich auf die Seite des schwer geschädigten Klägers schlug: »Ich denke, jetzt habe ich viel Zeit zum Angeln. Aber ich hätte nicht mehr schlafen können, wenn ich anders entschieden hätte.« Kehren Richter nach einem oder zwei Jahren als Schiedsperson auf die (Gehalts-)Liste zurück, vermeiden sie nochmals anzuecken. Cohen fordert deshalb: Dieser Handel gehört abgeschafft. Gerichte sind unabhängiger.
    *
    »Ich habe das schmutzige Geschäft des Gesundheitsmanagements (managed care) betrieben.« Linda Peeno hat schon vor 14 Jahren dem US -Repräsentantenhaus ausführlich geschildert, wie sie in diversen Funktionen, etwa als medizinische Leiterin einer HMO , Patienten notwendige Diagnostik, Therapien oder Operationen vorenthalten hat. Die Ärztin empfand weder Schmerz noch Reue. Ihr Unternehmen belohnte sie. Sie stieg auf, denn sie zeigte, wie ein »guter« Doktor für sein Unternehmen handelt, das dem »gesellschaftlichen Wohl« verpflichtet sei. Selbst als ein Patient starb, weil sie ihm, ohne sein Gesicht zu sehen, am Schreibtisch und nach Aktenlage eine notwendige Herzoperation verweigerte, fühlte sie sich wie ein gut ausgebildeter Soldat, der seine Befehle ausführt. Kam Unruhe auf, beruhigte sie sich mit dem Satz: »Ich verweigere die Versorgung nicht, ich lehne nur die Kostenübernahme ab.«
    Doch sie musste – wie viele andere Kollegen in den Führungsetagen der US -Gesundheitskonzerne – mit dieser Entscheidung leben. Sie fraß sich in ihr »Herz und ihre Seele«. Denn ihr war klar, dass sie als Arzt zuallererst und unwiderruflich der ethischen Norm zu folgen hat: Schade nicht. Die Kurzversion eines Teils des hippokratischen Eids leitet sich aus diesem Appell ab: »Die Behandlung werde ich nach Kräften und gemäß meinem Urteil zum Nutzen der Kranken einsetzen, Schädigung und Unrecht aber ausschließen.« Linda Peeno akzeptierte, dass sie für den Tod genauso verantwortlich war wie für »unendliche Schmerzen und Leiden«, die ihre meist mündlich erteilten Beschlüsse verursachten. Sie zog die Konsequenzen, gab ihren mit einer sechsstelligen Dollarsumme dotierten Job auf. Seither arbeitet sie für eine internationale Akademiegesellschaft, befasst sich mit praktischer Medizinethik und sitzt dem Ethikkomitee einer Universitätsklinik vor.
    Den US -Abgeordneten legte sie 1996 haarklein und präzise dar, wie ein kommerzialisiertes, auf Gewinn der Unternehmen ausgerichtetes Gesundheitssystem funktioniert und »inhärent unethisch« handelt – medizinisch und wirtschaftlich. Unter »managed care« (Gesundheitsmanagement) versteht sie ganz allgemein ein Vorgehen, das offen und verdeckt »Kosten kontrolliert und das Verhalten von Patienten und Ärzten beeinflusst«. Einfache Managementsysteme fechten aus ihrer Sicht die Autorität des Arztes an: Es gelten nur Durchschnittswerte. Ärztliche Urteile müssen sich ihnen
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